Welche Sprengkraft der Ukraine-Krieg hat, erlebt auch die Evangelisch-freikirchliche Gemeinde in Stuttgart-Feuerbach. Sie ist seit jeher international geprägt von Besuchern mit deutschen, ukrainischen und russischen Wurzeln. Schon kurz nach Beginn des Krieges baute die Gemeinde ein Hilfsnetzwerk für Flüchtlinge auf und half bei der Vermittlung von Unterkünften. Die Technik wurde aufgerüstet, sodass noch mehr Gottesdienstbesucher die russische Übersetzung hören können, die im normalen Gottesdienst ohnehin angeboten wird.
Nach wenigen Wochen begannen geflüchtete Ukrainer dort aber auch eigene Gottesdienste zu gestalten mit russisch- und ukrainischsprachigen Elementen. Auch diese Gemeinde erlebt: Das Interesse an der christlichen Botschaft ist groß. Selbst Ukrainer, die keine enge Bindung zur Kirche haben, kommen in die Gottesdienste, beten zum vielleicht ersten Mal in ihrem Leben, immer wieder finden Menschen zum Glauben.
Pavel Dawidjuk ist einer der Ukrainer, die jetzt in Stuttgart mit predigen. In seiner Heimat engagierte er sich in zwei freikirchlichen Gemeinden in der Leitung. Beruflich ist er Direktor der ukrainischen Partnerorganisation des Hilfswerkes „Licht im Osten“ (LiO), das seinen Sitz in Korntal bei Stuttgart hat. Als der Krieg ausbricht, ist er gerade in Polen auf der Rückfahrt einer Dienstreise, die ihn nach Deutschland geführt hatte.
In der Nacht rufen seine Kinder an: „Bomben fallen auf Kiew, überall ist Feuer.“ Freunde bedrängen ihn, nicht ins Land einzureisen. Stattdessen könnten sie seine Kinder an die polnische Grenze bringen. Doch das will Dawidjuk nicht. Er fährt zu seiner Familie in ein Dorf bei Kiew.
Wenige Tage später versucht die russische Armee einen Staudamm zu bombardieren. Die ukrainische Armee kann die Raketen abfangen. Wäre der Damm gebrochen, hätte es Dawidjuks Dorf weggespült. Als dann nach dem Beschuss eines Öllagers giftige Dämpfe in der Luft liegen, beschließt er, doch das Land zu verlassen. Weil er Vater dreier minderjähriger Töchter zwischen acht und 14 Jahren ist, darf er aus der Ukraine ausreisen.
Eigentlich will er nur seine Familie in Sicherheit bringen und dann zurückkehren. Aber seine deutschen Kollegen von LiO bitten ihn, zu bleiben und sie zu unterstützen – bei der Vorbereitung von Hilfstransporten wie auch bei der Produktion und Verbreitung von christlicher Literatur in ukrainischer Sprache für Menschen, die Jesus nicht kennen.
Wunsch nach Vergeltung
„Das Wort Gottes wird ausgesät wie nie zuvor“, sagt er. Ein ukrainisches Sprichwort laute: Wenn die Sorge groß ist, ist die Sehnsucht nach Gott größer. Das sei jetzt zu erleben. Die persönlichen Prioritäten hätten sich bei vielen Menschen seit Beginn des Krieges radikal geändert. „Die Erkenntnis, dass Gott in dieser völligen Ausweglosigkeit eingreifen muss, ist größer als der Zweifel an ihm.“
Aber was er auch erlebt: Der Wunsch nach Vergeltung hat viele Menschen erfasst, auch Christen – auch ihn. „Manchmal habe ich den inneren Drang, dafür zu beten, dass Gott Putin die Zähne ausschlägt, oder dass Putin umkommen möge“, erzählt Dawidjuk. Doch wenn er dann das Gebet seiner Tochter hört, die für Putins Seele bittet, darum, dass er sich zu Gott bekehrt, dann beschämt ihn das. Und er weiß, dass eigentlich das sein Gebet sein sollte.
„Wir sollten uns nicht von unseren Emotionen leiten lassen. Aber das ist sehr schwer.“ Jeder kenne Menschen, die getötet oder vergewaltigt wurden. Es sei jetzt nicht die Zeit, um über Versöhnung mit Russland zu sprechen. „Das ukrainische Volk braucht die Liebe Gottes. Wenn wir Christen uns unseren negativen Gefühlen hingeben, sind wir nicht in der Lage, den Menschen mit dieser Liebe zu dienen. Das schließt sich aus“, ist er überzeugt. Er kenne viele Russen, die den Krieg verurteilten. Auch seine beruflichen Partner in Russland und Kasachstan wüssten, was bei diesem Angriff vor sich gehe.
Zerreißprobe für die Gemeinde
Aber er hat ebenso erlebt, wie Christen die russische Propaganda gegen die Ukraine unterstützen. Die beten, dass die Ukraine Buße tun und den Willen Gottes annehmen möge. Das ist für Dawidjuk unerträglich. „Ich verstehe nicht, wie Menschen so etwas sagen können, wenn ich ihnen von vergewaltigten Mädchen, von getöteten Menschen, zerstörten Häusern berichte.“
Die Ukraine kämpfe nicht allein gegen Russland, sondern gegen ein „satanisches Regime“, das durchseucht sei von Korruption und geheimdienstlichen Methoden. Dass auch Christen in dieser Situation aus sachlichen Gründen Verständnis für Putin aufbringen – etwa weil die NATO Russland angeblich bedrohe –, nimmt Dawidjuk ihnen nicht ab. „Entweder haben sie sich bewusst entschieden, die Lügen von Putins Propaganda für wahr zu halten. Oder sie sind so eingehüllt davon, dass sie sie tatsächlich glauben.“
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So sorgt der Krieg auch in der Stuttgarter Gemeinde für Spannungen – mehr noch als die Corona-Pandemie und der Streit um die Maßnahmen, sagt Gemeindeleiter Jan Pepke. Gerade den Äußerungen mancher älterer Gemeindeglieder mit russischen Wurzeln sei die Kreml-Erzählung vom Krieg anzuhören. Er dringt darauf, in der Gemeinde keine öffentliche Debatte darüber zu führen.
„Jeder ist sich der Tragik und der Brisanz bewusst. Deshalb halten sich diejenigen, die der russischen Argumentation folgen, meist respektvoll zurück. Nicht aus Angst, sich nicht äußern zu dürfen. Sondern weil sie verstehen, dass das Thema emotional sehr aufgeladen ist.“ Lieber sucht Pepke dann selbst das Gespräch mit ihnen. Aber die Gemeinde könnte es an der Frage des Krieges zerreißen.
Eine Antwort
Ich war gestern mit Kindern im Schwimmbad. Der zarte Siebenjährige traf dort einen Klassenkameraden und ging im Wasser auf ihn zu Dieser, ein kräftiger Junge, packte den anderen freundschaftlich und drückte ihn immer wieder unter Wasser.Weil ich nicht so schnell hin kam, drohte der Kleine zu ertrinken. Nachdem ich ihn hochholte, bekam der andere eine kräftige Backpfeife von mir. „Ich habe doch nur gespielt“. sagte er zur Entschuldigung. Daran muss ich denken, wenn ich Putin und Konsorten höre und sehe.