Als Timothy Keller 2011 vor die etwa 400 Besucher der Gemeinde „Berlinprojekt“ tritt, ahnt niemand, dass ihm nur noch 12 Jahre bleiben. Keller ist damals 60, trotz überstandener Schilddrüsenkrebserkrankung zehn Jahre zuvor bei bester Gesundheit. Er predigt über die Hoffnung, Jesus Christus und die Schönheit. Es ist kein Zufall, dass Keller ausgerechnet dieses Thema für seine Predigt in der Kreativenhochburg Berlin wählt. Der Amerikaner ist so etwas wie ein Evangelisationsspezialist für die Großstadt.
Jazz statt hippes Auftreten
Bevor er 1989 seine New Yorker Redeemer Presbyterian Church gründete und begann, dort zu predigen, studierte er die Metropole. Er recherchierte haargenau, was die Menschen dort mehrheitlich glaubten, was sie um- und antrieb, wer sie waren. Die Gemeinde bot ihnen schließlich keine modernen Gottesdienste, hippe Musik oder eine besonders kreative Umsetzung. Stattdessen lud Keller zu Gottesdiensten mit Jazzmusik und traditionellen Inhalten ein.
Was die zuweilen 6.000 überwiegend jungen und alleinstehenden Gottesdienstbesucher zu Redeemer trieb, war also nicht der kreative Ansatz. Es war Kellers Ansprache. Sein Predigtstil und der Inhalt seiner Botschaft, genau zugeschnitten auf das Publikum, das er erreichen wollte. So ist es auch an diesem Sonntag im Jahr 2011. Keller spricht über Gottes Schönheit, vergleicht sie mit Mozarts Musik und zeitgenössischer Kunst. Eine Predigt, gemacht für Berlin.
Im Laufe seines Lebens hat Keller Dutzende Bücher geschrieben, eines seiner bekanntesten trägt den Titel „Warum Gott?“ Zwei Dinge, so beschreibt er es darin, machten Christen oft falsch, wenn sie Nichtchristen begegneten: „Sie sind oft verwirrend in dem, was sie über ihren Glauben sagen. Und sie sind beleidigend.“ So gebe es zum Beispiel sehr viel Weisheit in nichtchristlicher Kunst. Viele Christen aber schätzten diese Ausdrucksweise gering, weil sie eben nicht dem Glauben an Gott entspringe. Seiner Meinung nach ein großer Denkfehler: „Es sollte Christen nicht wundern, wenn es Nichtchristen gibt, die netter, freundlicher, weiser und besser sind als sie selbst. Warum das? Weil ich als Christ nicht aufgrund meiner moralischen Leistung, Weisheit oder Tugend von Gott angenommen werde, sondern allein aufgrund dessen, was Christus für mich getan hat.“
Konservativer mit großer Herzlichkeit
Es sind diese Sätze, die Kellers Engagement wohl am besten zusammenfassen. Überzeugter Glaube kombiniert mit einer demütigen Haltung gegenüber jener Welt, die er als Christ zu bewegen versuchte. Keller zählt innerhalb der evangelikalen Szene zu den Konservativen, er steht für die traditionelle Ehe, sieht Frauen in kirchlichen Leitungsämtern kritisch, rückte das Sühneopfer Jesu ins Zentrum jeder seiner Predigten.
Das aber verband Keller zeit seines Lebens mit dem bedingungslosen Einsatz für Bedürftige innerhalb New Yorks, allen voran für die spirituell Suchenden. Großstädte, so seine These, sind in den seltensten Fällen Atheistenhochburgen, wie lange Zeit von vielen Frommen propagiert und durch statistische Erhebungen gestützt. Sie sind eher Orte der Sehnsucht nach Anerkennung, Tiefe und sogar Gott.
Zwei verlorene Söhne
Warum aber ausgerechnet diese Suchenden keinen Schritt in die Kirche wagen, erklärte er in einem weiteren seiner Bücher. „Der verschwenderische Gott“ nimmt sich die Geschichte vom verlorenen Sohn vor und interpretiert sie neu. Anstatt sich lange über jenen Sohn auszulassen, der den Vater verlässt, konzentriert Keller sich auf jenen, der bleibt – und am Ende der Geschichte, ganz im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, nicht auf die Feier des Vaters geht. Getrieben von Eifersucht und Wut, wendet er sich ab – und steht am Ende vor der Tür.
Keller überträgt das auf die Großstädte: Sie seien voll mit jüngeren Brüdern, die die Welt sehen wollten und dabei viele Fehler machten, so wie jener in der biblischen Geschichte. Kirchen hingegen bestünden oft aus vielen älteren Brüdern, die von sich glaubten, alles stets richtig gemacht zu haben und deshalb nur wenig Herz für jene hätten, die sie als Sünder betrachteten. Es scheint nur logisch, dass jüngere Brüder eher keine Gemeinschaft mit älteren Brüdern suchten, die sie bevormundeten und ihnen ihre Fehler vorhielten. Gott hingegen vergebe beiden Arten von Brüdern in gleicher Weise ihre Sünden – sei es nun die Überheblichkeit oder das Verlangen.
Nur wenige Wochen vor seinem Tod nahm er eine letzte Videobotschaft an das über die Jahre entstandene Netzwerk von New Yorker Redeemer-Kirchen auf. Darüber hinaus gründete er das globale City-to-City-Netzwerk, aus dem hunderte Kirchen auf der ganzen Welt hervorgegangen sind, unter anderem jenes Berlinprojekt in der deutschen Hauptstadt. In seiner letzten Ansprache riet Keller Pastoren und Gemeindegründern vor allem zu einem: Demut. „Dient der Stadt und nicht euch selbst“, sagte er. „Investiert, anstatt zu konsumieren.“ Und weiter: „Schert euch nicht um euren Ruf. Und lasst den Erfolg eurer Kirche nicht eure Identität bestimmen.“
Es ist diese Uneitelkeit, die Kellers ganzes Pastorenleben prägte. Obwohl er zu den erfolgreichsten und weitblickendsten seiner Zunft gehörte, sah man ihn nie in TV-Shows und nur äußerst selten in Interviews oder gar in TV-Gottesdiensten. „Ich versuche, das zu vermeiden, es ist schädlich für die Kirche“, erklärte er 2011 nach jenem Gottesdienst in einem der seltenen Treffen mit Journalisten. Christliche Stars zögen Christen an, aber nicht jene Menschen, die von der Kirche noch nichts wüssten, sagte er, um dann recht schnell wieder aus dem Interviewraum zu verschwinden.
Wer in Kellers Predigten nach großen persönlichen Erweckungsgeschichten oder emotionalen Anekdoten sucht, wird kaum fündig. Nach seiner zweiten Krebsdiagnose 2020 bat er nüchtern und knapp um Gebet. Ebenso hielt er sich von politischer Parteilichkeit fern, verurteilte gar, wenn sich Christen öffentlichkeitswirksam von Parteien vereinnahmen ließen.
Letztes großes Interview im Januar
Und doch, ein großes Interview gab Keller noch vor seinem Tod. Bereits im Januar, damals noch gesundheitlich fit, sprach er via Videotelefonie mit dem christlichen US-Fernsehsender „Premier“. Doch weniger um seiner selbst willen, wie die Zuschauer schnell merkten. Statt über sein Leben und das Leid zu sprechen, wie es angesichts seiner fortgeschrittenen Bauchspeicheldrüsenkrebserkrankung denkbar gewesen wäre, nutzte Keller die knapp eineinhalb Stunden, um Fragen von Zuhörern in ähnlichen Situationen zu beantworten. Und vor allem, um eine Botschaft zu vermitteln: Vertraut Gott. Betet. Geht fröhlich durch das Leben, das Gott euch geschenkt hat, auch wenn es nicht ohne Mühsal ist.
Mit Timothy Kellers Tod ist einer gegangen, der ebenso überzeugt konservativ wie offen herzlich und intellektuell streitbar war. Ein großer Geist, der zugleich aneckte und umarmte. Laut Kellers Familie waren seine letzten klaren Worte: „Es hat keinen Nachteil für mich, wenn ich gehe, nicht den geringsten.“ Die Welt aber verliert einen einzigartig Uneitlen. Einen herzlich Suchenden. Einen zutiefst Gläubigen. Einer wie er, ist selten zu finden.