Zum Tod von Henry Kissinger

Als Sohn jüdischer Eltern floh er 1938 vor den Nazis. In beispielloser Weise beeinflusste er später die Weltpolitik. Am 29. November ist Henry Kissinger im Alter von 100 Jahren gestorben.
Von Christoph Irion

Er galt als eitel, als kühler Stratege und Charmeur. Als Friedenstifter, Militärberater, Konfliktforscher und Politik-Analyst hat er Millionen Bewunderer auf der ganzen Welt. Viele sehen den Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger aber eher als kalten oder gar heißen Krieger: Er soll mitverantwortlich sein für tausende zivile Todesopfer in etlichen Konflikten in Lateinamerika und Indochina in den 60er- und 70er Jahren. 

Doch eines scheint sicher: Vermutlich hat es keinen Menschen gegeben, der in den vergangenen sieben Jahrzehnten mehr Einfluss auf die Weltpolitik hatte. Seit fast 70 Jahren geht Henry Kissinger beinahe nach Belieben im Weißen Haus ein und aus. Nach eigenen Angaben hat er seit Dwight D. Eisenhower sämtliche Präsidenten der USA beraten. Sogar Donald Trump hat sich die Empfehlungen des alten weisen Mannes angehört.

Legendär sind aber vor allem seine Verhandlungsergebnisse im Nahostkonflikt: Im Herbst 1973 kam keine Nachrichtensendung ohne Kissinger aus, denn als Vermittler im Jom-Kippur-Krieg flog er wochenlang, manchmal mehrmals am Tag, zwischen Tel Aviv/Jerusalem, Kairo und Damaskus hin und her. Mit dieser „Pendeldiplomatie“ schaffte es Kissinger, die gefährliche Eskalation zwischen den arabischen Staaten und Israel zu entschärfen. Er gilt auch als einer der Väter der „Roadmap“ und zuvor der Vereinbarungen, die Israels Premierminister Jitzchak Rabin mit Palästinenserpräsident Jasser Arafat in den 90er-Jahren erzielt hatte.

Vor einem halben Jahrhundert avancierte Kissinger zu einer Art „Pop-Star“ der Weltpolitik. Kalter Krieg, Krisen in Fernost und Lateinamerika, viele Shakehands vor und noch viel mehr Deals hinter den Kulissen. Dazu der sensationelle diplomatische Brückenschlag der USA zu Mao Tse-tungs China im Jahr 1972 („Ping-Pong-Diplomatie“). In den 90er Jahren galt er als „teuerster Strategieberater“ (FAZ) der Welt.

Von Hitlerjungen drangsaliert

Geboren wurde er am 27. Mai 1923 als Heinz Alfred Kissinger in eine jüdische Familie im mittelfränkischen Fürth. Später berichtete er, dass er als Jugendlicher regelmäßig von Mitgliedern der Hitlerjugend drangsaliert und geschlagen wurde. Auch SA-Leute und Polizisten verprügelten ihn. Um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen, floh die Familie 1938 nach Amerika. 1944 kehrte Kissinger zurück – als amerikanischer Soldat. Weil er gut Deutsch sprach, machte er Karriere als Special Agent und spürte Gestapo-Beamte auf. Später studierte Kissinger Neue Geschichte, Politik und Internationale Beziehungen – bereits mit Anfang 30 war der Hochbegabte ein prominenter Harvard-Professor. 

Eine Begegnung im Jahr 2006. Kissinger mal wieder auf Welttournee. Als der inzwischen 83-Jährige im gleißenden Licht mit kleinen Schritten Richtung Bühne geht, brandet Beifall auf. Er geht langsam, etwas vornübergebeugt. Dann steigt er noch langsamer die Stufen zum Podium empor. Als Henry Kissinger vor dem Mikrofon steht, streift sein Blick durch das enge, vollbesetzte Rund der Stuttgarter Staatsoper. Provozierend lange schaut er sein Publikum an. Ein angedeutetes, schelmisches Lächeln spielt um die Mundwinkel. Hellwache, graublaue Augen blicken durch dicke Brillengläser.

Kissinger Foto: Christof Sage
Der heutige PRO-Geschäftsführer Christoph Irion (links) mit Henry Kissinger (rechts) im Jahr 2006

Und da hat er die Lacher auch schon auf seiner Seite: „Soll ich auf Fränkisch sprechen?“, fragt der weltberühmte Amerikaner in seinem unverwechselbaren, knarzigen Bass. Sekunden später ist es mucksmäuschenstill im klassizistischen Saal – in gut verständlichen Worten erklärt Kissinger die Welt. Und zwar die ganze.

Nützliche Tipps für US-Präsidenten

Dann geht es nach nebenan. 20 Minuten Antworten auf Fragen des Reporters, die sein Büro im 33. Stockwerk in der Madison Avenue in New York vorab genehmigt hat. Auch US-Botschafter William Timken will dabei sein. Henry Kissinger nippt an einem Glas Weißwein. Dann strahlen seine Augen, als er von John F. Kennedy erzählt: 1961, als in Berlin die Mauer gebaut wurde, durfte der aus Deutschland stammende Politikprofessor dem jungen US-Präsidenten ein paar Tipps geben. Zum Beispiel diesen: Er solle sich mal den Regierenden Bürgermeister von Berlin genauer ansehen, Willy Brandt, ein echtes Talent von den Sozialdemokraten. Der werde noch wichtig werden für Deutschland – Kennedy könne dabei helfen.

Auch an anderen Scheitelpunkten unserer jüngeren Geschichte hat Kissinger seine Präsidenten treffsicher beraten: 13. November 1989, ein Abendessen im Weißen Haus. Vier Tage nach dem Mauerfall in Berlin. Kissinger rät dem damaligen US-Präsidenten George Bush, er solle persönlich „Schulter an Schulter“ an der Seite von Kanzler Helmut Kohl „marschieren“. Genau das hat Bush sen. in den kommenden elf Monaten getan. Historiker sind sich einig: Die starke, verlässliche Unterstützung Washingtons war im diplomatischen Ringen mit Moskau, Paris und London ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Zustandekommen der deutschen Einheit.

Watergate-Affäre: Nixon fordert Kissinger zum Beten auf

Kissinger wäre nicht Kissinger gewesen, wenn er nicht auch die tiefsten Tiefen der amerikanischen Demokratie persönlich erlebt und durchlitten hätte. Und zwar hautnah. Im Jahr 1974, mehr als vier Jahrzehnte, bevor Donald Trump das Weiße Haus eroberte, stürzte der Republikaner Richard Nixon als bislang einziger US-Präsident über einen „drittklassigen Einbruch“ in ein Wahlkampfbüro der Demokraten, wie er selbst es nannte. Im Zuge der Watergate-Affäre wurde im Laufe von zwei Jahren quasi das ganze öffentliche Leben in den USA lahmgelegt.

Das Weiße Haus versank in einem Vertuschungs- und Betrugssumpf mit illegalen Tonbandmitschnitten, die im Oval Office aufgezeichnet worden waren. In ihrem Buch „The Final Days“ beschreiben die legendären Investigativ-Reporter der „Washington Post“, Bob Woodward und Carl Bernstein, dass es damals auch Kissinger fast erwischt hätte. Aus FBI-Akten sei hervorgegangen, dass Kissinger „gewisse (illegale) Abhöraktionen persönlich gefordert“ habe.

Mit Tränen in den Augen stand der einst strahlende Außenminister kurz vor seinem Rücktritt. Doch letztlich musste der Präsident selbst gehen. Kurz bevor alles aus war, traf Kissinger seinen ungeliebten Präsidenten im kleinsten Zimmer des Weißen Hauses, dem Lincoln Room. Ein Zufluchtsort. Da bricht der Präsident schluchzend zusammen. Was hatte er dem Land denn Böses getan? „Henry“, sagt Nixon. „Wir müssen beten.“ Der nicht besonders gläubige Christ bittet den noch weniger frommen Juden auf die Knie. Am Ende war Kissinger der einzige aus Nixons direktem Umfeld, der sein Ministeramt auch in der neuen Regierung fortführen konnte.

Israelisch-palästinensischer Konflikt bleibt Thema

Bis kurz vor seinem Tod beschäftigte sich Kissinger in analysierenden Beiträgen immer wieder mit der „Suche nach einer Weltordnung“. Und immer wieder ging es um den israelisch-palästinensischen Konflikt, den er Jahrzehnte lang intensiv begleitete. Auch wenn sich Kissinger hier immer wieder persönlich investiert und Verhandlungen inspiriert und initiiert hat, so kam er als Analyst zu dem ernüchternden Fazit: „Es ist unwahrscheinlich“, dass ein derartiger Konflikt durch ein Abkommen „definitiv beigelegt werden kann“. Der „realistischste Ansatz“ wäre die Definition einer „Koexistenz“. Seit jeher würden auf beiden Seiten historisch abgeleitete Gebietsansprüche überlagert von ideologischen und religiösen Forderungen. Wie aktuell scheint diese Analyse doch auch mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen.

Der Jude Kissinger ging immer auch mit den Israelis hart ins Gericht. Doch diese seit „Jahrzehnten währende explosive Pattsituation“ könne überhaupt erst aufgelöst werden, wenn wirklich beide Seiten – auch Palästinenser und viele arabische Staaten – grundsätzlich das Existenzrecht eines möglichen Verhandlungspartners anerkennen: Gegenseitige Anerkennung als Grundlage für erfolgreiche Verhandlungen. Diese Spielregel lasse sich historisch seit dem Westfälischen Frieden von 1648 für fast alle Konflikte ableiten – damals fand der Dreißigjährige Krieg endlich ein Ende.           

Auch in Interviews meldete sich Kissinger bis Mitte des Jahres pointiert zu Wort. Zu den Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz oder zum Ukraine-Krieg. Anlässlich seines 100. Geburtstags sagte er der „Zeit“: „Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin liegt.“ Schon 2022 hatte er die Ukrainer aufgefordert, „den Heldenmut“, den sie im Abwehrkampf zeigten, mit „Weisheit zu überbieten“. Kissinger fordert eine diplomatische Einigung, die den territorialen Zustand vor dem russischen Angriff zum Ziel hat. Die Ukraine solle dann NATO-Mitglied werden – aber die Krim und früher bereits besetzte Gebiete würden dauerhaft bei Russland bleiben.

Seinen hundertsten Geburtstag feierte Kissinger noch im Mai mit der Familie in seinem Landhaus in Connecticut, danach ging es weiter nach New York, London – und in seine Geburtsstadt Fürth. Er war ein weltgewandter Staatsmann bis zuletzt. Am 29. November starb er dort, wo er auch seinen letzten Geburtstag feierte: In jenem Landhaus in Connecticut.

Hinweis: Dieses Porträt ist in ähnlicher Weise zuerst zum 100. Geburtstag Kissingers bei PRO erschienen.

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