Drei Stufen über eine Holzleiter auf einen Absatz in der Kirchenmauer, eine Vierteldrehung nach rechts, eine weitere Leiter hinauf durch ein Loch im Boden der Empore – das ist der Weg zur Orgel in der barocken roten Backsteinkirche in Lüssow, einem kleinen Dorf in Vorpommern. Die Orgel sieht aus wie die hölzerne Miniatur eines herrschaftlichen Portals mit drei Torbögen, in denen die Pfeifen stehen, verziert mit Simsen und spitzen Dächern.
Gebaut hat sie Friedrich Friese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist das einzige Instrument von ihm in Vorpommern und insofern etwas Besonderes in der regionalen Orgellandschaft, erklärt Stefan Zeitz. Er scheint alle Orgeln zwischen Rügen und Pasewalk im Nordosten der Republik ins Herz geschlossen zu haben, so viele Details kann er zur regionalen Kirchengeschichte und über Orgelbauerdynastien erzählen und von der Schönheit der Instrumente schwärmen.
Zeitz ist Kantor in Greifswald und darüber hinaus Orgelsachverständiger der Nordkirche. Wenn irgendwo eine Orgel nicht mehr funktioniert, eine neue angeschafft oder die alte restauriert werden soll, wendet sich die Kirchengemeinde an ihn. Er berät sie dann, stimmt die Bedarfe der Gemeinde mit den Orgelbauern ab, und unterstützt nach Möglichkeit dabei, das nötige Geld und Fördermittel heranzuschaffen. Denn für eine Reparatur oder gar Generalüberholung ist schnell ein mittlerer fünfstelliger Betrag oder mehr fällig. Für eine Dorfgemeinde viel Geld.
Von den rund 400 Orgeln in seinem Gebiet kennt er 260 – dokumentiert mit Fotos. Darunter sind die kleinen wie die in Lüssow – sie hat nur vier verschiedene Klangfarben, Register genannt, ein Manual, also eine Reihe Tasten, sowie eine Reihe Pedale. In den Großstädten Stralsund und Greifswald stehen aber auch mehrere Etagen hohe Instrumente mit tausenden Pfeifen, dutzenden Registern und drei Manualen übereinander.
Wie ein Organismus
Für Zeitz ein Schatz, den es zu bewahren gilt. Eine Orgel ist für ihn mehr als einfach ein Instrument, das zufällig vor allem in Kirchen steht. Orgeln geben einer Kirche Ausstrahlung, findet er. Wer sich eine Kirche anschaut, will auch die Orgel sehen – ein Klavier macht da nicht so viel her. Orgeln sind außerordentlich komplexe Kunstwerke. Zeitz sagt: Damit spiegeln sie auch etwas von der Schöpfung wider. Der Name des Instruments kommt vom Griechischen „organon“, dem Werkzeug. Aber auch „Organismus“ steckt in dem Wort.
Und damit lassen sich die vielfältigen Teile des Instruments auch ein bisschen vergleichen, findet er. Alle müssen zusammenarbeiten, damit am Ende Töne herauskommen. Von der Taste über die Verbindungen zu den Ventilen bis zur Pfeife, dazu die sogenannten Windladen, auf denen die Pfeifen der verschiedenen Register stehen, und der Blasebalg, der für den nötigen Luftdruck sorgt – den Lebensatem des Instruments. Zeitz erzählt auch gern über die physikalischen Details, wie sich die Schwingungen von Terzen, Quinten und Oktaven zueinander verhalten und was das für die Länge der Pfeifen und die verschiedenen Stimmungen des Instruments bedeutet.
Vor allem geht es ihm aber um eines: „Bei allem, was ich tue, sollen die Menschen die gute Nachricht von Gottes Liebe hören“, sagt er. In Mecklenburg-Vorpommern sind etwa 17 Prozent der Bürger evangelische Kirchenmitglieder, weniger als im bundesdeutschen Durchschnitt. In den normalen Sonntagsgottesdienst kommen in vielen Dörfern nur eine Handvoll Menschen. Der Pfarrer von Gützkow, einer pommerschen Kleinstadt, sagt: Seit Corona feiere er öfter Familiengottesdienst – er mit seiner Frau und Kindern. „Mein Traum ist, dass die Menschen hier wieder in die Kirche gehen, weil sie merken, dass sie Jesus brauchen“, sagt Zeitz. Und die Orgeln im Land sollen dabei helfen.
Wenn die Menschen zumindest ihretwegen und für die Musik in die Kirchen kommen, dann sollen sie auch etwas vom Glauben erfahren. Mit verschiedenen Formaten unter dem Motto „Orgel&mehr“ zieht Zeitz deshalb durch die Orte und lädt zu Konzerten ein, teilweise mit befreundeten Predigern, oft aber auch allein. Er erklärt den Besuchern dabei etwas über die Orgeln, die Komponisten und über die geistlichen Botschaften der Musik. Dazu gibt es Kaffee und Kuchen im Kirchhof, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Bis zu 80 Zuhörer sind dann öfter dabei, berichtet Zeitz.
In diesem Jahr spielt er bei diesen Konzerten in sechs verschiedenen Kirchen alle sechs Orgelsonaten von Felix Mendelssohn Bartholdy, der vor 175 Jahren starb. Der Komponist, der wegen seiner jüdischen Familienherkunft während des Nationalsozialismus aus den Programmen der Konzerthäuser gestrichen wurde, wandte sich als Jude dem christlichen Glauben zu und schrieb bedeutende geistliche Werke wie die Oratorien „Paulus“ und „Elias“. Auch in seinen Sonaten für die Orgel verarbeitet er Kirchenchoräle, etwa Martin Luthers „Vater unser im Himmelreich“.
Gerade die Verbindung von christlichem Glauben und jüdischem Erbe fasziniert Zeitz an Mendelssohn Bartholdy. Und das ist es auch, was er an den heutigen Gemeindeliedern von Judenchristen liebt, die er ebenfalls bei einigen seiner Auftritte mit den Menschen singt. Manchmal, wie in diesem Sommer, ist er auch mit Judenchristen unterwegs, um mit ihnen gemeinsam zu singen und die Zuhörer zum Glauben einzuladen.
Ein Ruf nach Pommern
Wenn Zeitz in den pommerschen Kirchen unterwegs ist, parkt er so nahe wie möglich am Eingang. Hinter der Windschutzscheibe seines Wagens liegt ein Zettel mit seiner Telefonnummer und dem Hinweis: „Das ist das Auto des landeskirchlichen Orgelsachverständigen“. In der Fahrertür liegt ein handliches Neues Testament. Er hat immer Bibeln dabei, wenn er unterwegs ist, erzählt er. Auch Karten mit Bibelversen und christlichen Inhalten. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, verschenkt er sie an Menschen, denen er begegnet, wie beim Bezahlen an der Tankstelle.
Mit Jesus ist er häufig im Zwiegespräch, sagt er, wohl ein bisschen so wie Don Camillo mit Jesus im Film „Don Camillo und Peppone“. Und so war es ein Ruf Gottes, den Zeitz einmal bei einem Spaziergang übers Feld in seinem Inneren spürte: Sein Platz sollte in Pommern sein. Ursprünglich kommt er aus dem Rheinland, ist bei Franziskanerbrüdern geistlich geprägt worden, hat in Essen Kirchenmusik studiert und nach dem kirchlichen das Konzertexamen an der Orgel gemacht. Nach Jahren als Freiberufler lebte er mit seiner Frau, einer Flötistin und Musiklehrerin, und ihren zwei Kindern in Schwäbisch Gmünd und baute am evangelischen Gäste- und Gemeindezentrum Schönblick die Gemeindemusikschule mit auf, wo sowohl klassische als auch Popularmusik unterrichtet wird.
Seit 2006 ist der heute 57-Jährige nun Kantor an der Ostsee, zunächst in Gützkow, jetzt in der Christusgemeinde Greifswald, und evangelisches Kirchenmitglied, seit 14 Jahren Sachverständiger für die Kirchenorgeln im Sprengel. „Hier kann ich mehr dafür tun, dass Menschen Jesus kennenlernen, als im christlich geprägten Württemberg“, stellt er fest. Im Jahr 2028 steht in der Region ein bedeutsames Jubiläum an. Denn dann jährt sich die zweite Missionsreise des Bamberger Bischofs Otto ins damals slawische Pommern zum 900. Mal. Zu Pfingsten 1128 beschloss der pommersche Stammesfürst Wratislaw, sich mit den anwesenden Stämmen auf Usedom von Bischof Otto taufen zu lassen.
So wurde das Christentum in Vorpommern eingeführt. Otto habe viel für Völkerverständigung, Frieden und natürlich für den Glauben getan, erklärt Zeitz. Ein Lied über den „Apostel der Pommern“ im Stil eines Chorals hat er schon geschrieben: „Sankt Otto kommt nach Pommern mit dem Evangelium. / Er predigt in den Sommern, wandelt Menschenherzen um, / weil Jesus Christ, der Meister, Seine Liebe offenbart / und alle Herzen öffnet, weil der Herr sich ihnen naht“, lautet die erste von sieben Strophen. Er hofft, dass das Jubiläum dazu dient, dass die christliche Botschaft von Jesus, von seinem Tod, der Auferstehung und der Erlösung der Menschen in der ganzen Region zu hören ist. Eine bessere Gelegenheit, um den Glauben öffentlich ins Gespräch zu bringen, gibt es kaum. Auch Zeitz will vor allem musikalisch seinen Beitrag dazu leisten. Wäre er eine Orgel, seine Hoffnung, dass Menschen sich wie damals von der Botschaft Jesu anstecken lassen, wäre der Blasebalg.
Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 5/2022 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.
Eine Antwort
Das ist ein lobenswerter Einsatz. Die Situation in Brandenburg sieht ähnlich aus, von 2000 Einwohnern sind in manchen Dörfer mal gerade noch 150 Mitglied einer Kirche, und von denen kommen vielleicht 2 oder 3 in den Gottesdienst. Die anderen 147 sieht man dann, wenn folkloristisch anmutende Veranstaltungen wie Taufe, Hochzeit oder Beerdigung ansteht.
Wir haben noch Glück – unsere Gottesdienste ziehen Menschen bis aus 30km Entfernung an, den bibeltreuen Predigten (und auch mir als gläubigen ehrenamtlichen Organisten) sei Dank. Aber die Situation verschlechtert sich, Organisten sind Mangelware und oftmals schon durch einen CD-Spieler ersetzt, auf die Sanierung von Orgeln wird aus Kostengründen weitgehend verzichtet, und der Pfarrermangel wie auch der Gläubigenmangel führt immer mehr dazu, dass ein Pfarrer auch mal 7 Dorfkirchen zu versorgen hat. Und damit finden die Gottesdienste nur noch alle 3 bis 7 Wochen statt – und wenn die „Übung“ fehlt, dann fehlen die Gottesdienstbesucher.
Meine Erfahrung zeigt leider auch, dass Einmalveranstaltung wie Konzerte keine Gemeindebindung erzeugen. Das Event wird konsumiert, aber der Gemeindebesuch oder die Bindung an Jesus erhöht sich nicht in der Folge.