„Zeit für Versöhnung ist noch nicht reif“

Solange Russen und Ukrainer kämpfen, will die Weltweite Evangelische Allianz keine Versöhnungsarbeit beginnen. „Die Zeit ist noch nicht reif“, sagt die stellvertretende Generalsekretärin Peirong Lin. Dennoch wirbt sie für Empathie auf beiden Seiten.
Von Anna Lutz

PRO: Die Russische Evangelische Allianz ist Mitglied der Weltweiten Evangelischen Allianz. Wie haben sich die Beziehungen entwickelt, seit Russland die Ukraine vor einem Jahr angegriffen hat?

Peirong Lin: Wir pflegen sehr enge und persönliche Kontakte zu evangelikalen Kirchen in der Ukraine und ebenfalls zur Russischen Evangelischen Allianz. Wir achten penibel darauf, die Lage differenziert zu betrachten und nicht unnötig Partei zu ergreifen. Wir wollen auf keinen Fall, dass uns die weltpolitische Lage daran hindert, Nächstenliebe zu leben. Die Europäische Evangelische Allianz trifft sich deshalb mit beiden Seiten zum Gebet. Niemand wird rausgeworfen. Wenn wir als Weltweite Allianz eine Pressemitteilung zum Krieg herausbringen, dann laden wir immer auch die russischen Geschwister dazu ein, es zu kommentieren.

Die Weltweite Evangelische Allianz hat den Krieg bereits im Februar 2022 verurteilt. Wie stehen die russischen Christen im Bereich der Allianz dazu?

Die meisten von ihnen halten den Krieg für falsch und verurteilen Gewalt.

Können sie das in Russland offen sagen?

Ich bin davon überzeugt, dass Selbstzensur für viele Russen – und auch Menschen in anderen nichtwestlichen Ländern – ganz normal ist. Sie haben Zeit ihres Lebens gelernt, sich selbst zu schützen, indem sie vorsichtig mit dem sind, was sie sagen.

„Christen in Russland müssen vorsichtig sein, dass sie nicht wirken, als würden sie sich dem Westen anbiedern.“

Peirong Lin im Interview mit PRO

Können Christen in Russland ihren Glauben frei leben – heute ebenso wie vor Kriegsbeginn?

Der orthodoxe christliche Glaube ist in Russland sehr verbreitet und dem evangelikaler Christen ähnlich. Sie glauben ebenfalls an Jesus. Daher würde ich sagen: Ja, sie können ihren Glauben frei leben. Dennoch müssen sie vorsichtig sein, dass sie nicht wirken, als würden sie sich dem Westen anbiedern. Das ist eine Gratwanderung: Zeuge für Jesus zu sein und zugleich nicht zu politisch aufzutreten.

Aber es funktioniert an vielen Stellen. Wir haben gute Kontakte zu russischen Christen, die sich für ukrainische Geflüchtete in Russland engagieren. Unsere russischen Geschwister haben sich dazu entschieden, Zeugen zu sein, indem sie gute Taten vollbringen. Und dafür weniger laut darüber sprechen, dass sie den Krieg für falsch halten.

Vitaly Vlasenko, der damalige Generalsekretär der Evangelischen Allianz in Russland, hat sich im vergangenen Jahr öffentlich für den Krieg entschuldigt und sein Mitgefühl für die Ukrainer ausgedrückt hat. Putin dürfte das nicht gefallen haben.

Er hat gesagt, was viele russische Christen denken: Dieser Krieg ist kein guter Krieg.

Wie geht es Vlasenko heute?

Wir fragen ihn regelmäßig, wie es ihm geht und seine Antwort ist immer dieselbe: Bitte betet für mich und meine Landsleute. Ich denke, es geht ihm ganz gut, zumindest im Vergleich mit den ukrainischen Geschwistern, die gerade um ihr Leben kämpfen. Aber natürlich hat er nicht dieselben Freiheiten wie jemand, der in Westeuropa lebt. Im Sinne seiner eigenen Sicherheit wurde sein Statement damals nicht auf Russisch, sondern auf Englisch veröffentlicht. Damit war der Adressat klar: Die Ukrainer und der Westen und nicht die Russen. Kollegen von mir haben ihn vor einigen Tagen erst getroffen. Er darf reisen und ist frei.

Die Ukrainer sagen: „Unser Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit. Und dieser Krieg ist nicht gerecht. Wir sehen zwar hier bei uns jetzt noch keinen Sieg. Aber unser Gott siegt am Ende immer.“

Peirong Lin im Interview mit PRO

Was hören Sie von den ukrainischen Kirchen? Wie geht es ihnen?

Die Pastoren in der Ukraine sind nach einem Jahr der Not und der Angriffe sehr müde. Während es am Anfang des Krieges vor allem darum ging, die Menschen mit Kleidung und Lebensmitteln zu versorgen, sind die Herausforderungen für Gemeindeleiter nun andere.

Viele Menschen haben sich an das Leben in Kriegszeiten gewöhnt, sich daran angepasst. Aber nun wird langsam offenbar, wie traumatisiert sie sind. Sie brauchen also weniger Dinge des täglichen Bedarfs und mehr Beistand, Seelsorge, Traumatherapie. Wir als Weltweite Evangelische Allianz versuchen die Kirchen zu unterstützen, wo wir können, vor allem, indem wir ihnen helfen, sich zu vernetzen.

Hat sich der Glaube ukrainischer Christen durch den Krieg verändert? Glauben sie noch, dass Gott sie rettet?

Die Schwerpunkte der Theologie haben sich verändert. Ich höre, dass sich ukrainische Kirchen derzeit sehr stark mit dem Thema Gerechtigkeit beschäftigen. Mehr vielleicht als Christen, die wie wir privilegiert im Westen leben und nicht täglich um ihr Leben fürchten müssen.

Die Ukrainer sagen: „Unser Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit. Und dieser Krieg ist nicht gerecht. Wir sehen zwar hier bei uns jetzt noch keinen Sieg. Aber unser Gott siegt am Ende immer.“ Ihnen ist auch wichtig, dass Gott ihr Klagen hört, dass sie klagen dürfen und dass Gott sie versteht. Sie vertrauen, auch wenn sie die Rettung derzeit nicht sehen.

Wie steht es um den Glauben der Russen?

Sie bemühen sich, gute Taten zu vollbringen. Und so Zeugen Jesu zu sein. Durch Nächstenliebe. Ich denke, wenn wir die Menschen in Russland einfach nur als Täter sehen, greift das zu kurz. Auch die Russen stehen unter Druck. Auch dort gibt es Zwänge. Auch sie leiden unter der Situation. Auch sie brauchen unsere Empathie.

Bemüht sich die Weltweite Evangelische Allianz darum, Ukrainer und Russen an einen Tisch zu bringen?

Dafür ist die Zeit noch nicht reif. Erst muss der Krieg enden. Dann kann man über Versöhnung sprechen. Nicht solange noch Menschen auf beiden Seiten sterben. Was wir allerdings tun können, ist, bewusst Gelegenheiten für Gespräche zu kreieren. Eines unserer Departemente hat bereits begonnen, kleinere Schritte in diese Richtung zu machen.

Was ist Ihr derzeit drängendstes Gebet hinsichtlich des Krieges?

Ich möchte, dass die Ukrainer wissen, dass jemand an ihrer Seite steht. Sie sind nicht allein. Wir tun, was wir können, um die Menschen und speziell die Christen dort zu unterstützen. Ich bete, dass wir unsere Ressourcen dafür weise einsetzen.

Frau Lin, vielen Dank für das Gespräch!

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen