Zwischen verwaisten Weihnachtsmarktbuden und rotweißen Absperrbändern erhebt sich die Berliner Gedächtniskirche, zu deren Füßen der Lastwagen seine Todesspur zog. Es ist ein Abend wenige Tage vor Weihnachten, aus Kaufhäusern und Boutiquen kommen Menschen mit Weihnachtseinkäufen, Leuchtreklame blinkt und die Bäume entlang des Ku’damm sind festlich beleuchtet. Und doch ist alles anders. Je näher man der Gedächtniskirche kommt, desto ruhiger wird es. Immer noch sind Teile der Straßen abgesperrt, Fernsehübertragungswagen reihen sich an Polizeifahrzeuge, Blaulicht an den Kreuzungen und immer wieder Polizisten mit Maschinengewehren. Die Kirche, nach dem zweiten Weltkrieg bewusst im zerstörten Zustand als Mahnmal belassen, gleicht mit dem sie umgebenden Raum auch heute wieder einer offenen Wunde mitten in der Stadt.
An verschiedenen Stellen leuchten Lichtermeere. Trauernde und mitfühlende Menschen haben Kerzen aufgestellt, Blumen abgelegt, dazwischen Schilder mit Aufschriften wie „Warum?“ oder „The light is stronger than the darkness“. Eine Straßenmusikerin singt mit dunkler und sanfter Stimme „Amazing Grace“. Viele Leute stehen hinter den Absperrbändern, manche in Gedanken, manche im Gespräch über das Unfassbare, das passiert ist.
Die Evangelische Kirche hat am Dienstagabend zu einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in die Gedächtniskirche eingeladen. Gäste verschiedener Religionen nahmen daran teil. Auch etliche Politiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Norbert Lammert (beide CDU), Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Berlins Regierender Bürgermeister Müller (beide SPD) waren dabei. Schon eine ganze Zeit vor Beginn des Gedenkgottesdienstes ist die Kirche voll. Die vielen dunkel gekleideten Menschen wollen ihre Betroffenheit und Anteilnahme zum Ausdruck bringen. Das Böse ist auf einmal sehr nahe gerückt. „Man denkt, alles ist so weit weg, und dann guckt man vor dem Schlafengehen nochmal ins Internet und liest sowas“, meint eine Frau. Ein guter Freund von ihr habe nur wegen einer plötzlichen Magengrippe am Abend des Anschlags nicht auf den Weihnachtsmarkt gehen können.
Gott zu vertrauen, tröstet
Drei junge Mädchen mit Rosen in der Hand stehen beieinander. Die Konfirmandinnen hatten an dem Abend in der Kirche das Krippenspiel geprobt, als draußen der Lastwagen in die Menge fuhr. Sie bekamen nichts davon mit. Als sie heraus wollten, sei dort Panik gewesen, Rufe, sie sollten sich in Sicherheit bringen, erzählen sie. So richtig sei ihr erst zu Hause klargeworden, was eigentlich passiert sei, meint eine Dreizehnjährige und schaudert noch im Nachhinein. Hätte die Probe nicht so lange gedauert, wären sie alle draußen auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. „Wir hätten auch da drunter liegen können“, ist den dreien bewusst. Zwei Konfirmanden hätten sich bereits vom Krippenspiel abgemeldet, erzählt eine Vierzehnjährige mit dunkler Hautfarbe. Man müsse aber zeigen, dass man keine Angst habe, ist sie überzeugt.
Zwei ältere Damen haben sich gerade in das ausliegende Kondolenzbuch eingetragen. „Sprachlos ob dieser Unmenschlichkeit“ habe sie geschrieben, sagt die eine. Ihr gebe der Glaube Hilfe, so die andere. Als zwar katholisch bezeichnet sich eine Berlinerin, aber sie glaube eher an eine universelle Energie. Dennoch war es ihr ein Bedürfnis, neben die Lichter und Blumen eine kleine Krippe zu stellen. „Wo Opfer oder Angehörige ihr Vertrauen auf Gott setzen, können sie Trost erfahren“, ist sich ein Rentner sicher. Er ist unter anderem zum Breitscheidplatz gefahren, um zu zeigen, „dass das Leben hier weitergeht“.
Freiheit ist verletztlich
In der Gedächtniskirche wollen die Vertreter der verschiedenen Religionen ein Gegengewicht zu Hass und Terror schaffen. Im Laufe des Gottesdienstes halten sich evangelischer Bischof, katholischer Erzbischof, jüdischer Rabbiner und muslimischer Imam an der Hand. Diese „Reihe der Verbundenheit“ setzt sich von vorne bis in die hinterste Reihe der Gemeinde fort. „Wir geben dem Terror nicht dadurch Recht, dass wir uns entzweien lassen, nur weil wir aus unterschiedlichen Kulturen stammen oder auf verschiedene Weise unseren Glauben leben“, betont der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Markus Dröge.
„Wir werden uns nicht aufhetzen und gegeneinander ausspielen lassen“, so auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller direkt im Anschluss an den Gottesdienst. „Lassen Sie uns jetzt das tun, was wir in schweren Zeiten immer getan haben: Noch mehr zusammenstehen, mutig und selbstbewusst sein!“, lautet sein Appell an die Berliner. Gleichzeitig macht er klar: „Es gibt in freien Gesellschaften keine vollkommene Sicherheit.“ Heute werde die eigene Verletzlichkeit noch viel bewusster als sonst, aber auch, dass man nicht anders als frei und demokratisch leben wolle.
Gemeinsam aushalten
Über den gedenkenden Menschen unten im Saal hängt hoch oben vor den blauleuchtenden Glasfenstern die gut viereinhalb Meter hohe messingglänzende Christusfigur, mit ausgebreiteten Armen in Kreuzgestalt. „Wie soll ich dich empfangen“, singt die Gemeinde. Neben dem bekannten ersten stehen auch der fünfte und sechste Vers auf dem Liedzettel. Die jahrhundertealten Worte Paul Gerhardts drücken viel von dem heutigen Kummer aus:
Nichts, nicht hat dich getrieben zu mir vom Himmelszelt/ als das geliebte Lieben, damit du alle Welt/ in ihren tausend Plagen und großen Jammerlast,/ die kein Mund kann aussagen, so fest umfangen hast.
Das schreib dir in dein Herze, du hochbetrübtes Heer,/ bei denen Gram und Schmerze sich häuft je mehr und mehr;/ seid unverzagt, ihr habet die Hilfe vor der Tür;/ der eure Herzen labet und tröstet, steht allhier.
„Ich habe fast die ganze Zeit geweint“, gesteht eine der drei Konfirmandinnen nach dem Gottesdienst. Sie habe so eine Trauer und ein Mitempfinden verspürt. „Alles ist irgendwie viel reeller geworden während des Gottesdienstes. Und in mir war so ein Gefühl von Hilflosigkeit, weil man gegen so etwas nichts machen kann.“ Mit diesen Gefühlen von Trauer und Schmerz geht jeder anders um. Der eine will reden, der andere nur schweigen. Diese Erfahrung haben die ehrenamtlichen Notfallseelsorger gemacht, die auch beim Gedenkgottesdienst noch einmal dabei sind.
Am Abend des Anschlags war das überkonfessionell zusammengesetzte Kriseninterventionsteam mit zwanzig Seelsorgern vor Ort. „Erste Hilfe für die Seele“ wollen sie geben. „Wir leiden wie alle anderen an dem, was passiert ist“, sagt eine Mitarbeiterin. „Empathie und Mitgefühl sind auch über den Glauben hinaus vorhanden.“ Zwei muslimische Notfallseelsorgerinnen mit Kopftuch stehen im Kirchenraum. Für sie gelte der Auftrag „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, betont die eine. Deshalb sei sie gegen Gewalt und tue etwas.
Alle bei ihnen handelten aus Mitmenschlichkeit heraus, erklärt ein junger Mann. Er macht nach eigenen Worten aus christlichen Motiven heraus bei der Notfallseelsorge mit. Er findet Halt im Glauben an Gott: „Meine Hoffnung ist die, dass das, was wir vor Augen haben, nicht alles ist.“ Leid zu erklären versucht er nicht. „Die Warum-Frage kann ich nicht beantworten, aber ich kann gemeinsam mit den Menschen aushalten.“ (pro)
Von: Christina Bachmann