Analyse

Wort und Wirkung – Teil 3: Die letzte Plenarsitzung

In der letzten Sitzung des Bundestages vor der Wahl ging es zu wie in einer Schulklasse – diesen Eindruck hatte Rhetoriktrainer Hanno Herzler. Auch bei anderen Auftritten machten Politiker keine gute Figur.
Von PRO
Plenum Bundestag

Nichts für Schulkinder?

Darf man diese Debatte überhaupt Schulkindern zeigen? Oder verdient sie das Label „FSK 16“, weil man sonst womöglich zur Lockerung der Sitten an deutschen Schulen beiträgt?

Ständige Zwischenrufe sah und hörte man; dazu häufige Plaudereien mit dem Sitznachbarn, als gälte es, kurz vor Ladenschluss noch das letzte fehlende Panini-Bildchen zu ergattern. Aufmerksames Verfolgen des „Unterrichts“ sieht anders aus!

Die letzte Plenarsitzung des 20. Deutschen Bundestags am Dienstag, 11. Februar 2025, bot dem, dem der Jugendschutz egal sein kann, einen kurzweiligen Schlagabtausch der Granden der deutschen Politik.

Immerhin waren diesmal fast alle anwesend; wenig Grund also für einen Lehrer zu der hübschen Fehlleistung: „Ich sehe einige, die nicht da sind!“ Am ruhigsten war es bezeichnenderweise noch während der Rede Robert Habecks, denn der redete den Versammelten dringlich ins Gewissen. Habeck, der Typ „seriöser Lehrer“, der mit den Schülern gut auskommt. Man könnte sich ihn auch als Klassensprecher vorstellen, und zwar als den seriösen Typen, der mit den Lehrern gut kann. Daneben gibt es ja den unartig-vorlauten, schnell dreist und altklug wirkenden Klassensprecher; eine Rolle, die man in einem Schauspiel vielleicht seinem Konkurrenten Christian Lindner antragen würde.

Die Politik als Bühne für ein Schauspiel? Friedrich Merz hat einmal entspannt bei einem Sauerländer Waldspaziergang zu diesem Begriff Stellung genommen, er sagte sinngemäß: „Schauspieler zu sein bedeutete ja, überzeugend in verschiedene Rollen schlüpfen zu können. Ich habe für mich immer in Anspruch genommen, authentisch bleiben zu wollen. Umgekehrt: Dass da zum Koalitionsbruch Drehbücher geschrieben wurden, hat mich befremdet.“

Hanno Herzler, Sprecher, Rhetoriktrainer Foto: Petra Herzler-Grossmann

Zum Autor

Hanno Herzler, Jahrgang 1961, ist freischaffender Journalist, Rhetoriktrainer, Sprecher und Autor – unter anderem von Hörspielen für Kinder und Jugendliche, Büchern und Musicals. Er hat auch zahlreiche Hörbücher produziert, darunter Hörbibeln. Der evangelische Theologe ist auch als Redner für Trauerfeiern und Hochzeiten tätig. Er lebt im Raum Wetzlar.

Kehren wir also zum Bild von der Schule zurück, falls das für eine Bundestagssitzung nicht zu despektierlich erscheint. Die Rechtfertigung der Abgeordneten für ihre mangelnde Aufmerksamkeit, würde man sie denn zur Rede stellen, klänge wohl ähnlich wie bei Dreizehnjährigen: „Was der da vorn labert, weiß ich doch sowieso schon!“

Also: frisch sich danebenbenehmen! Zum Beispiel durch Zwischenrufe. Die verleihen einer Unterrichtsstunde, pardon, einer Bundestagsdebatte, doch erst die nötige Lebendigkeit und Würze!

Es ist nur schlecht, wenn nicht einmal die Oberlehrerin, will sagen, die Parlamentspräsidentin Bärbel Bas, für Ruhe sorgt. Jedenfalls unterließ sie das, als Alice Weidel sie mit ausgesuchter Höflichkeit darum bat, Zwischenrufe zu unterbinden. Statt ihres Amtes zu walten, erwiderte die SPD-Frau: „Das können Sie Ihrer eigenen Fraktion ja auch mal sagen, die hier permanent …“ stört, vermutlich, der Rest des Satzes ging im johlenden Beifall der „Klasse“ unter.

Unparteiisch für Ruhe zu sorgen geht anders. Oder fänden Sie es richtig, wenn der Fußball-Schiedsrichter einem gefoulten Spieler den fälligen Elfmeter verweigern würde mit der Begründung: „Auch deine Mitspieler begehen viele Fouls!“? Nein, das geht nicht an, Frau Bas. Die Kanzlerkandidatin der AfD hat leider recht, wenn sie sagt: „Ihr Job, Frau Präsidentin, ist eine neutrale Präsidiumsleitung.“

Alice Weidels Gesicht, als sie sich von dem kurzen Austausch mit der Vorsitzenden wieder den Kameras zuwandte, zeigte tiefe Verärgerung. Was blieb ihr übrig, als sich selbst Luft und Geltung zu verschaffen? Das tat sie mit massiven Angriffen gegen die Grünen: „Sie machen Politik gegen die Bevölkerung! Dieser geifernde Kindergarten, was machen Sie hier eigentlich?“ Und in der dritten Person: „Diese Leute haben hier im Bundestag nichts verloren, die haben alle noch nie in Ihrem Leben gearbeitet.“

Ups. Was würde da ein Lehrer, ein guter Pädagoge, sagen? „Streitet nicht, Kinder“? Aber Herr Lehrer, Helmut Schmidt sagte doch: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“???

Aus dem Streit lernen?

Die Debatte begann mit Olaf Scholz, und wer ihn hörte, konnte – mit ihm selbst – glauben, er sei der beste Kanzler weit und breit. Allerdings glauben das ja nicht einmal alle in seiner SPD, sonst hätten sie ja nicht Boris Pistorius als Kandidaten bevorzugt.

Friedrich Merz glaubt das sowieso nicht. Auf Scholz’ Rede reagierte er, begleitet von ungläubigem Lächeln, mit den eröffnenden Worten: „Was war das denn?“ Es folgte die zu erwartende Abrechnung mit dem Kanzler.

Parteien und Netzwerke zu bilden, Lobbyarbeit, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und überzeugend darzulegen, wobei man Andersdenkende auch mal verbal hart rannimmt – wäre das nicht auch ein Lernziel für Schulen?

Den rhetorischen Vogel in Richtung Kanzler schoss freilich Christian Lindner ab, indem er sagte: „Olaf Scholz bereitet sich darauf vor, der zweite Nobelpreisträger aus den Reihen der SPD zu sein: Willy Brandt bekam den für den Frieden, Olaf Scholz den für Physik, denn er hat den endgültigen Beweis erbracht, dass es Paralleluniversen gibt!“ Heißt: Er lebt selbst in einem solchen, fern unserer Realität. Ein Gag mit etwas Anlauf. In der Schule gäbe es für solches Mobbing wohl einen strengen Verweis. Hoffentlich.

Aber genug vom Vergleich mit unseren Bildungsanstalten! Die Menschen im Bundestag und im Wahlkampf sind ja erwachsen (laut Ausweis jedenfalls).

Vielleicht wird ja umgekehrt ein Schuh draus: Lernen Schüler, die sich ähnlich verhalten dürfen, dabei womöglich etwas fürs spätere Leben?

Parteien und Netzwerke zu bilden, Lobbyarbeit, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und überzeugend darzulegen, wobei man Andersdenkende auch mal verbal hart rannimmt – wäre das nicht auch ein Lernziel für Schulen? Ist das Pädagogen-Credo, dass Diskussionen unter Jugendlichen stets geprägt sein müssen von Fairness, Inklusion und Harmonie, vielleicht weltfremd? Oder wollen wir dieses Ideal doch weiter lehren, weil die Abweichung davon sich von alleine wieder Bahn bricht? Was sagen Sie?

Interesse am Menschen

Im Grunde würde ich unsere Regierenden und solche, die es werden möchten, gern einmal befragen bis hinab in ihre tiefen Beweggründe. Wo in der heutigen Medienlandschaft eröffnet sich die Gelegenheit dazu? Es müsste ja vielleicht gar nicht in der Öffentlichkeit sein; Offenheit wäre mir wichtiger.

Nehmen wir ein Beispiel: Warum ist Alice Weidel zu einer Partei gegangen, die rechtsradikalem Gedankengut, um das Mindeste zu sagen, aufgeschlossen gegenübersteht? Weshalb zog es sie gerade dorthin? Was würde sie, wenn man sie geschickt zu einem Augenblick ehrlicher Selbstreflexion führen würde, über die Wurzeln ihres Werdegangs erkennen und bekennen? Welche grundlegenden Erfahrungen, womöglich schon als Kind, haben dafür gesorgt, dass sie in ihrer Seele nicht, sagen wir, zu grünen Positionen tendiert – oder überhaupt lieber Gärtnerin geworden ist?

Dasselbe Interesse bekenne ich für alle, die da im Rampenlicht stehen. Und für andere auch.

Es gibt offenbar Erlebnisse und Prägungen, die einen Menschen auf einen bestimmten Weg bringen – oder auch wieder davon abbringen. Ein krasses Beispiel wäre Zachäus, von dem das Neue Testament berichtet. Eine Begegnung mit Jesus bewegte ihn, den man wohl als Opportunisten und Trickser bezeichnen kann – ganz sicher war er in seinem jüdischen Umfeld ein Außenseiter –, sein Leben vom Kopf auf die Füße zu stellen. Eine Nummer kleiner erläutert es Rick Warren, der US-amerikanische Pastor: Er weist darauf hin, dass Menschen, die mit grundlegenden Veränderungen („change“) konfrontiert sind, am ehesten offen sind für das Evangelium. Weil sie, wie wir alle, in der Katastrophe – oder im höchsten Glück, aber das ist seltener – bereit sind, unsere Einstellungen zu hinterfragen.

Elefantenrunde

Leichter als darüber spricht es sich natürlich über plakative Ereignisse und Auftritte; über Entgleisungen, Sprüche und skurille Auftritte. Erinnerte die Plenarsitzung an die Schulzeit oder ein Theater, so lässt sich manches Polit-Geschehen auch mit einem Zirkus vergleichen.

Eine der größten Zirkusnummern in der deutschen „Elefantenrunde“ – so nennt man ja das erste Zusammentreffen der Spitzenkandidaten am Wahlabend mit Journalisten – liegt 20 Jahre zurück: Der groteske Auftritt von Noch-Kanzler Gerhard Schröder.

Der war soeben nach sieben Jahren als Regierungschef abgewählt worden – eigentlich! Doch er polterte drauflos, als sei das objektive Ergebnis für ihn bedeutungslos. Er weigerte sich, den – wenngleich knappen – Wahlsieg Angela Merkels anzuerkennen, und griff, da er die CDU-Frau als Gegnerin gar nicht auf Augenhöhe wähnte, lieber die Journalisten an: „Ihr intellektuelles Problem in allen Ehren“, begann seine Antwort auf deren Frage, wie er denn ohne Mehrheit eine Regierung bilden wolle.

Und mit abschätzigem Blick auf eine mögliche Kanzlerschaft Angela Merkels: „Wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen.“ Die Deutschen hätten in der Kandidatenfrage eindeutig votiert, erklärte der Wahlverlierer der staunenden Runde: „Ich führe Gespräche, und ich sage Ihnen heute voraus, die werden erfolgreich sein.“

Testosteronstrotzend, auf abschreckende, aber zunächst auch durchaus wirkungsvolle, weil einschüchternde Weise trat er auf. Merkel wusste offenbar nichts zu erwidern, und so schwieg sie. Wie sie auch später meist erst einmal schwieg, wenn etwas passierte. Das Abwarten und Aussitzen entsprang bei ihr, wie es scheint, auf noch natürlichere Weise dem persönlichen Wesen als bei ihrem Ziehvater Helmut Kohl, bei dem es mehr dem politischen Kalkül diente. Und so schlecht beraten ist man ja nicht, wenn man erst einmal tief durchatmet, bevor man etwa explodiert – oder Kernkraftwerke abschaltet.

Noch ein Wort zu den beiden Moderatoren dieser Elefantenrunde 2005, den damaligen Chefredakteuren Nikolaus Brender (ZDF) und Hartmann von der Tann (ARD): Sie reagierten verschnupft im Wesentlichen nur auf Schröders Angriffe gegen die Sender: Gewiss, er unterstellte ihnen, im Wahlkampf eine Kampagne gegen ihn gefahren zu haben. Trotzdem durfte man als Zuschauer erwarten, dass sie sich gerade in dieser brisanten Lage besonders als Anwälte der Wähler verstehen! Das haben sie versäumt. Nur ihre Selbstrechtfertigung und die ihrer Sendeanstalten schien ihnen wichtig zu sein. Das geht besser!

Überzogenes Selbst- und Siegesbewusstsein wie weiland Schröder demonstrieren Wahlkämpfer indes bis heute.

Lesen Sie in der nächsten Folge, auf welche Aussagen, Halbsätze und Wörter Sie vor und nach der Wahl wetten können.

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