"Eine Partei kann sich nur innerhalb der Marke verändern, die ihr zugeschrieben wird", erklärte der CDU-Politiker Ulrich Müller, der dem Landtag von Baden-Württemberg angehört, am Samstag. "Bewegt sie sich aus dieser Identität hinaus, glauben Außenstehende nicht, dass es ehrlich gemeint ist – und treue Parteianhänger werden vor den Kopf gestoßen." So sei beispielsweise der Atomausstieg eine Panik-Reaktion gewesen, die nicht auf einer durchdachten Analyse beruht habe.
Die Marke CDU stehe unter anderem für innere und äußere Sicherheit sowie Wirtschaftskompetenz. Es mache keinen Sinn, so Müller, wenn die Union im Hinblick auf einen möglichen grünen Koalitionspartner vor einer Wahl immer grüner werde. Stattdessen solle die Union so stark und selbstbewusst auftreten, als ob nicht gegen sie zu regieren sei. Dann finde sich auch schnell ein Koalitionspartner. "Wir müssen uns nicht jede Meinung zu eigen machen, die demoskopisch wahrnehmbar ist", so Müller. "Entscheiden wir nicht danach, was modern ist und was nicht, sondern danach, was richtig und was falsch ist."
Dass sich die gesellschaftliche Debatte nach links verlagere, sei eine Herausforderung, sich nicht anzupassen, sondern für eine andere Politik zu werben. Für die linke Deutungshoheit über manche Fragen seien auch die Medien verantwortlich: "Wenn 70 Prozent der Medienschaffenden sagen, dass sie mit SPD oder Grünen sympathisieren, dann sagt das ja etwas aus."
"Im Gegensatz zu beispielsweise Italien oder Frankreich ist das Parteiensystem in Deutschland relativ stabil", erklärte der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) bereits zur Eröffnung der Tagung am Freitagabend. Nach und nach seien kleinere Parteien hinzugekommen, und heute sei das System in einer besonders spannenden Phase: "Die Piraten sind eine Partei, die sich noch selber findet, aber bereits erstaunliche Wahlergebnisse einfahren kann."
"Das Ende der Volksparteien ist da"
Der Parteienforscher Jürgen Falter referierte über die Situation der großen Volksparteien Union und SPD, die seiner Ansicht nach keine "Volksparteien" mehr sind. "Union und SPD bringen nur noch die Hälfte der Wähler einer Bundestagswahl hinter sich – bezogen auf alle Wahlberechtigten sind es weniger als 40 Prozent", erklärte er. Kaum einer würde heute noch sein ganzes Leben lang immer die selbe Partei wählen: "Der Ausschlag der öffentlichen Meinung wird stärker, Wahlausgänge werden unberechenbarer", so der Experte. Er führte an, dass beispielsweise die kirchlichen Milieus stark zurückgegangen seien, wenn man sich die Statistiken der Kirchenmitgliedschaften und Gottesdienstbesuche anschaue. Die Parteien müssten sich darauf einstellen, nicht mehr auf klar definierte Gruppen zählen zu können.
Moderne Kommunikationsmöglichkeiten wie die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter fördern laut Falter den Trend der Individualisierung – auch Freundschaften und Gruppenzugehörigkeiten würden lockerer und unverbindlicher. Die Entwicklung der Medienlandschaft sei einer Herausforderung für die Parteien: "Die jüngeren schauen Fernsehen über das Internet und informieren sich zuerst im Netz. Sie konsumieren kaum Politisches, die Privatsender tragen zu einer Depolitisierung bei." Andererseits trügen Fernsehsender mit ihren Filmen, Serien und Doku-Soaps zur Meinungsbildung junger Leute bei – in dem sie darin gesellschaftliche Leitbilder und sexuelle Auslebungsformen als normal darstellten, die bis vor kurzem nicht als normal gegolten hätten.
"Grüne sind Partei der Reichen"
"Die derzeitige Parteienlandschaft in Deutschland kann die Politikverdrossenheit befeuern", sagte Falter. "Früher war mit meiner Stimme klar, wofür ich votiere. Heute wissen die Menschen nicht mehr, welche Koalition sie am Ende mit ihrer Wahl unterstützen. Das hat bedrohliche Konsequenzen für die Stimmung im Land." Auf die Nachfrage aus dem Publikum, ob sich die Grünen in Richtung einer neuen Volkspartei entwickeln würden, erklärte der Parteienforscher: "Die Grünen sind neben der FDP die Partei, die sich am deutlichsten von allen anderen unterscheidet. Sie sind ganz klar eine Partei der neuen Mittelschicht, der Leute, die deutlich überdurchschnittlich verdienen. Die wollen das nicht hören, aber das ist empirsch erwiesen."
Renate Schmidt: Ich würde nie "rumtwittern"
Die ehemalige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) sprach sich auf der Tagung für mehr direkte Demokratie in Form von Volksabstimmungen aus, um die repräsentative Demokratie zu ergänzen. "Das würde dazu führen, dass Politiker ihre Überzeugungen wesentlich besser verständlich machen und erklären müssen." Es solle mehr Dialoge zwischen der Bevölkerung und dem Parlament sowie mehr Transparenz geben. Damit könne die Politik Vertrauen zurückgewinnen. Auch solle der Bundespräsident direkt gewählt werden.
"Es ist die Aufgabe der Medien, uns dabei zu helfen, Inhalte für die Bürger verständlich zu kommunizieren", so Schmidt. Es sei bemerkenswert, wie schlecht sich Menschen an die Argumente zu einem Thema erinnern könnten, selbst wenn sie am Vorabend in den "Tagesthemen" einen Bericht dazu gesehen hätten.
An der Piratenpartei kritisierte die Politikerin deren Forderung nach Anonymität im Internet. Auf die Frage, was die SPD von den Piraten lernen könne, antwortete Schmidt, ihre Partei solle sich nicht anbiedern und nicht "jeden Schmarrn" mitmachen. Sie persönlich störe auch "dieses dauernde herumgetwittere" sowie das soziale Netzwerk Facebook: "Da werde ich mich um Himmels Willen niemals anmelden." Das Gefühl von Beteiligung, dass die Piraten den Bürgern vermitteln, sei dadurch möglich, dass "die etablierten Parteien den Bürger zwischen den Wahlen nicht ernst genug nehmen".
Zu der Tagung hatte der Politische Club der Evangelischen Akademie Tutzing eingeladen. Bis Sonntagnachmittag werden unter anderem die evangelische Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler und die Staatsministerin Christine Haderthauer (CSU) erwartet. (pro)