Wenn Wilbirg Rossrucker die Fensterläden des kleinen Hauses in der Leonhardstraße in Stuttgart öffnet, warten manche Frauen schon sehnsüchtig davor. Drei Mal pro Woche ist das „Hoffnungshaus“ eine Anlaufstelle für Prostituierte im Rotlicht-Milieu. Wie wertvoll die Arbeit ist, zeigen die Geschichten von Rossrucker und ihrer Kollegin Alina Weisser, die sich aus christlicher Überzeugung hier engagieren.
Laut aktuellen Zahlen prostituieren sich in der Stadt etwa 4.000 Frauen und 300 Männer. Vier von fünf stammen aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn oder Tschechien. Wer in Stuttgart am Bahnhof nach dem Rotlichtviertel frage, lande in den meisten Fällen hier, sagt Rossrucker. Mittwochs, freitags und samstags sind haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen im „Hoffnungshaus“, um Essen anzubieten, mit den Frauen zu reden oder gemeinsam zu spielen. Meistens „Mensch ärgere Dich nicht!“, weil die Frauen das kennen und es dabei wenig Sprachbarrieren gibt.
Der Raum gleicht einer urigen Kneipe mit Theke, mehreren Tischgruppen und zwei gemütlichen Sofaecken. Über einem Tisch hängt ein Schild mit dem Wort „Lieblingsplatz“. Das ist das „Hoffnungshaus“ für viele Besucherinnen geworden. Vor mehr als zehn Jahren hat der aktuelle Besitzer das Haus geerbt und das unter Denkmalschutz stehende Gebäude renoviert. Die „Aktion Hoffnungsland“, das Bildungs- und Sozialwerk des evangelischen Gemeinschaftsverbands in Württemberg (Apis), ist Träger des „Hoffnungshauses“.

Geschäftsführer Stefan Kuhn hat die Idee entwickelt. In den oberen Etagen gibt es jetzt fünf Wohnungen. Wer dort einzieht, verpflichtet sich, die Arbeit zu unterstützen. Der Start 2016 war nicht nur für das „Hoffnungshaus“, sondern auch für Rossrucker ein Neubeginn. Nach ihrer Scheidung entschied sich die Österreicherin, in Stuttgart neu anzufangen. Ein Herz für Schwache hatte die resolute Frau schon immer und Berührungsängste sind für sie seit jeher ein Fremdwort. Die gelernte Hebamme hospitierte in mehreren Einrichtungen für Prostituierte und las relevante Bücher zu dem Thema. Ihre jüngere Kollegin Weisser ist Sozialarbeiterin und Theologin.
Ausstieg scheitert an der Abhängigkeit
Im „Hoffnungshaus“ haben bis auf die Ehrenamtlichen nur Frauen oder Männer in Frauenkleidung Zutritt. Männer, die reinschauen, werden höflich auf diese Regel hingewiesen. Viele Besucherinnen seien körperlich und seelisch am Ende und fühlten sich wertlos. Die meisten befriedigten täglich 10 bis 15 Freier, erzählen Rossrucker und Weisser. Eine Frau habe ihnen von 40 Geschlechtsakten am Tag berichtet: „Das ist gesundheitlich schwer vorstellbar. Ohne Drogen oder Alkohol ertragen viele das nicht.“ 100 bis 160 Euro koste die Frauen ein Zimmer pro Tag im Bordell. Viele müssen fast die Hälfte ihrer Einnahmen an die Zuhälter abgeben. Wer dann noch Geld nach Hause schicke, habe oft nur noch 200 bis 300 Euro monatlich zum Leben: „Da wäre es besser, wenn sie in ihrer Heimat einem Beruf nachgehen“, sagt Weisser.
„Es ist faszinierend, wie sie ihre körperlichen Beschwerden ausblenden“, betont Rossrucker. So sei es nicht ungewöhnlich, dass Frauen am Vortag ein Kind geboren hätten und sich am Folgetag wieder prostituierten. „Es macht mich wütend, wieviel Gewalt die Frauen erleiden müssen“, ergänzt Weisser. Die zwei haben gelernt, sich an den kleinen Dinge des Lebens zu freuen. Eine Prostituierte habe nach einem heftigen Streit das Haus verlassen und sei erst Jahre später wieder zurückgekommen. Dabei habe sie gesagt. „Wo sollte ich denn sonst hingehen?“ Einige Frauen haben den Ausstieg geschafft, andere sind auch im x-ten Anlauf an der Abhängigkeit von ihrem Zuhälter gescheitert: „Die Geschichten können wir Gott einfach nur hinlegen und dafür beten“, sagt Rossrucker. Sie erzählt von einer Bulgarin mit einer bewegten Lebensgeschichte im Milieu. Als sie den Ausstieg geschafft hatte, konnte man das schon an ihrer Mimik ablesen: „Ihr Gesicht war nicht mehr angespannt.“

Normalerweise kommen an den Öffnungstagen zwischen zwölf und 15 Prostituierte im Alter von 20 bis 85 Jahren in das Café. Manche sitzen einfach da oder lesen die Zeitung. Andere lackieren sich die Fingernägel oder basteln und verzieren Perlenketten. Eine Physiotherapeutin verwöhnt die Frauen regelmäßig mit kostenlosen Massagen. Außerdem können sie sich mit Hygieneartikeln oder Kleidung eindecken. Einmal im Monat feiert die Einrichtung einen Gottesdienst, zu dem jeder eingeladen ist. Auch das jährliche Straßenfest mit Livemusik und kurzem geistlichen Impuls ist für viele nicht mehr wegzudenken. Auf der Straße wird von den christlichen Gemeinden der evangelischen Allianz in Stuttgart eine Festtafel gedeckt und die Menschen begegnen sich und bauen Berührungsängste ab. Finanziert werden die 1,5 Vollzeit-Stellen und die wenigen Mini-Jobs durch Spenden. Eine Stelle bezuschusst die „Aktion Mensch“.
Die Mär von Prostitution als normalem Beruf
Aktuell machen sich Freier strafbar, wenn sie wissen, dass die Frau ihre Dienstleistung nicht freiwillig anbietet. Das sei den Männern bewusst, aber sie argumentierten, dass sie dafür auch bezahlt hätten. Politisch wird derzeit die Einführung des sogenannten „Nordischen Modells“ diskutiert, das in allen großen Fraktionen des Bundestages Befürworter habe. Rossrucker kritisiert jedoch, dass bei Anhörungen im Bundestag oder in Fernsehsendungen immer nur die Frauen zu Wort kämen, die dies als „Sexarbeiterinnen“ freiwillig machen. Das hinter der Prostitution knallharte Gewalt steht, sei den wenigsten in der Öffentlichkeit bewusst. Und Deutschland sei nach wie vor internationaler Dreh- und Angelpunkt für das Gewerbe, das Bordell Europas. „Die meisten Frauen würden sofort damit aufhören, wenn sie könnten“, betont Rossrucker. Ihr geht es auch darum, die Mär von der Prostitution als einem normalen Beruf zu beenden. „Hier passiert so viel Unrecht und keiner schaut hin.“
Das „Nordische Modell“
Das „Nordische Modell“ basiert im Kern auf einem Verbot des Sexkaufs, bei dem jedoch nicht die Prostituierten, sondern die Käufer von sexuellen Dienstleistungen strafrechtlich verfolgt werden. Da den Prostituierten keine strafrechtlichen Konsequenzen drohen, können sie verstärkt von Hilfsangeboten und Ausstiegsprogrammen Gebrauch machen. Dieses Modell, das 1999 in Schweden eingeführt wurde, hat sich seitdem in weiteren nordischen Ländern wie Norwegen und Island etabliert und wird auch international zunehmend diskutiert. Weitere Informationen und Hinweise, wie man sich für Prostituierte engagieren kann, bietet der Verein „Gemeinsam gegen Menschenhandel“, in dem das Stuttgarter „Hoffnungshaus“ und zahlreiche weitere Organisationen Mitglied sind.
Prostituierte würden nach wie vor stigmatisiert. Während ein männlicher Bordellbesuche als normal gelte, hätten Aussteigerinnen große Probleme, wenn ihr Arbeitgeber von ihrem vorherigen „Beruf“ erfahre. Hinzu komme ein finanzieller Aspekt: Die Vergnügungssteuer sei eine enorme Einnahmequelle für jede Stadt, verdeutlicht Weisser. Mit Menschenhandel und Prostitution würden weltweit jährlich mehr Geld verdient als mit Waffenhandel. Rossrucker betont: „Wenn Frauen hier zehn Minuten Gutes erleben, dann hat es sich schon gelohnt.“ Beratungsstellen könnten den Gesprächsbedarf oft nicht decken.
Selbstwert der Frauen steigern
Der christliche Glaube ist für Weisser und Rossrucker eine persönliche Ressource. Aber sie halten es in der täglichen Arbeit mit Franz von Assisi: „Sprich über deinen Glauben und wenn es sein muss auch mit Worten.“ Manchmal sollen die Frauen auch für familiäre Anliegen der Prostituierten beten. Auch Prävention ist für Rossrucker ein wichtiges Thema. Sie referiert gerne bei Frauen-Frühstückstreffen, macht Stadtführungen oder informiert im Rotary-Club. Manche Erlebnisse machen sie sprachlos. Bei einer Stadtführung habe eine gut situierte Frau ihr erzählt, wie froh sie sei, dass ihr Mann ins Bordell gehe, weil er dort auch das bekommen könne, was sie nicht erfülle. Ein junger Mann berichtete, dass seine Firma nach der Weihnachtsfeier mit der gesamten Belegschaft ins Bordell gefahren ist. Andere bekämen zum Abitur oder zur Volljährigkeit einen Bordell-Besuch geschenkt.
Im christlichen Bereich nimmt Rossrucker den Umgang mit Prostitution als großes Tabu wahr: „Aber wir müssen ehrlich sein, wie sehr das Thema die Gesellschaft beherrscht.“ Gemeinden müssten überlegen, ob und wo sie für diese Menschen einen Platz hätten. Deswegen sei auch die Vernetzung so wichtig: sowohl in Stuttgart aber auch darüber hinaus mit ähnlichen Organisationen, die sich auf christlicher Grundlage gegen den Menschenhandel einsetzen. Mit ihrer Arbeit möchten sie im „Hoffnungshaus“ dazu beitragen, den Selbstwert der Frauen zu steigern. Viele rutschen schneller in die Prostitution als gedacht. Begünstigt werde dies durch erlebten Missbrauch oder Gewalt in der Kindheit, die Loverboy-Methode und Armut. Dann werde Prostitution als ein Mittel angesehen, um schnell Geld zu verdienen. Dadurch gerate man in ein System, aus dem man schwer aussteigen kann. Ein weiterer Einstieg ist die Pornographiebranche, die dann eng mit Prostitution verwoben ist.
Deswegen gehe es darum, die Kinder in den Familien zu stärken und mit einem gesunden Selbstbewusstsein auszustatten. Und was wünscht sich Rossrucker für die Zukunft: „Dass unser Haus nicht mehr gebraucht wird.“ Sie lacht kurz auf. Dann wird sie nachdenklich. Sie weiß, wie unrealistisch das ist.
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Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 2/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.