Wenn ihre neue Glocke an Weihnachten läutet und mit warmem Klang an die Geburt Jesu erinnert, geht für die kleine evangelisch-reformierte Gemeinde im ostfriesischen Uttum ein Traum in Erfüllung. Lange haben sie dafür gespart. Um die Glockengeburt mitzuerleben, sind viele von ihnen zur ältesten deutschen Gießerei nach Hessen gefahren.
Wenn die Bronze auf 1.100 Grad erhitzt ist, hat sie dir richtige Temperatur zum Guss
Asche wirbelt durch die Luft. Es ist brüllend heiß in der Werkstatt, den Umstehenden läuft der Schweiß über die geröteten Gesichter. „Alle fertig?“, fragt Hanns Martin Rincker seine Mitarbeiter. „Wir wollen in Gottes Namen gießen.“ Der Ofen wird geneigt, das grell-gelbe Metall fließt in die Rinne, die zu einem Gussloch führt. Die Geburt einer Kirchturmglocke ist eingeleitet. Zu dem Ereignis sind rund hundert Zuschauer ins hessische Städtchen Sinn gereist und haben sich in der Werkstatt der Gießerei Rincker versammelt. Im Halbkreis stehen sie um Ofen und Grube, wo an diesem Tag acht Glocken gegossen werden. Kirchengemeinden aus Tübingen, Neuküstrinchen an der Oder, Lippstadt, Raunheim und Uttum haben diese in Auftrag gegeben. Die Zuschauer sind aus ganz Deutschland gekommen, die meisten aus Ostfriesland. „Wer die größte Glocke bestellt, darf auch die meisten Personen mitbringen“, erklärt Rincker, der den Familienbetrieb zusammen mit seinem Bruder in der 13. Generation führt. Die Uttumer Glocke ist mit fast 1,5 Metern Durchmesser die größte, die an diesem Tag gegossen wird. 30.000 Euro kostet sie. Alle dörflichen Vereinigungen von der Feuerwehr bis zum Sportverein haben sich daran beteiligt, das Geld zusammenzubringen. Im Sommer sind etwa alle gemeinsam „geradelt für die Glocke“.
Neun Tonnen schwer
Das Musikinstrument ist auf den Ton „Es“ gestimmt, das hat Rincker im Vorfeld exakt berechnet. Schließlich muss der Klang ganz genau zu den zwei anderen Glocken passen, die bereits im Uttumer Kirchturm hängen. Die stammen aus den Jahren 1464 und 1659. Ursprünglich gab es noch eine dritte, die hat die Firma Rincker 1876 gegossen. Im Ersten Weltkrieg wurde die Gemeinde gezwungen, die Glocke abzugeben. Um das Geläut wieder zu komplettieren, haben die Uttumer über 80 Jahre später eine Eisenglocke angeschafft. Anders als Bronzeglocken halten die aus Eisen aber nur etwa 50 bis 70 Jahre, bis sie spröde werden und Risse bekommen. Was die Auftragslage angeht, haben Glockengießer von den beiden Weltkriegen profitiert, denn damals wurden viele Glocken zerstört oder eingeschmolzen. Außerdem haben früher viele Glockengießer auch Kanonen produziert, weil die Herstellverfahren ganz ähnlich sind. Diese Zeiten sind natürlich vorbei. Ein zweites Standbein hat die Firma Rincker dennoch, denn hängt eine Bronzeglocke erst einmal, hält sie hunderte von Jahren. „Mit jeder Glocke, die wir gießen, schaufeln wir unser eigenes Grab“, sagt der Unternehmenslenker. Die Hessen haben sich deswegen auch auf Kunstguss spezialisiert.
Rinckers Herz hängt an den Glocken. Seine Augen leuchten, wenn er darüber spricht, in einen Kirchturm hinaufzusteigen, in dem eine Jahrhunderte alte Glocke hängt, und zu wissen, dass schon einer seiner Vorfahren die Treppe benutzt haben muss. Oder darüber, dass es für ihn selbstverständlich ist, zu reisen, nur um eine besondere Glocke anzuschauen. Oder dass er den Klang einer Rincker-Glocke auf jeden Fall blind erkennen würde. Oder wenn er über das größte Musikinstrument spricht, das in der Firmengeschichte je gegossen wurde, nämlich eine fast neun Tonnen schwere Glocke aus dem Jahr 1927.
Saunatemperaturen und Kamerablitze
An diesem Tag wiegt die größte Glocke immerhin beinahe zwei Tonnen. Ihre Form ist nicht sichtbar, sie steckt in der Gussgrube. Darüber haben die Glockengießer in den vergangenen Tagen Erde festgestampft. Was die Zuschauer sehen können, sind die Rinnen, durch die das flüssige Metall zu den Gusslöchern fließt, unter denen die Formen für die Glocken stecken. Vor der Glockengeburt brodelt die glühend heiße Bronze im Ofen.
„Max. 3,8 Tonnen“ steht darauf. 5,2 Tonnen Bronze sind an diesem Tag darin. An den grellen Flammen, die wie bei einem überdimensionalen Bunsenbrenner oben aus dem Ofen und aus zwei Düsen an den Seiten lodern, können die Umstehenden erahnen, wie heiß es im Kessel sein muss. Bereits am Vortag hat Rincker den Ofen angeheizt. 1.100 Grad Celsius hat das Metall, wenn es gegossen wird. Im Raum selbst herrschen Saunatemperaturen. Haben sich die Zuschauer anfangs um die Gussgrube gedrängt, treten sie immer weiter zurück, im Versuch, der Hitze zu entkommen. Kamerablitze zucken. Nach dem Guss werden die Umstehenden wie nach einem großen Lagerfeuer riechen, so intensiv ist der Holzkohlegeruch.
Neun Männer sind für den Glockenguss verantwortlich. Sie tragen olivgrüne Schutzkleidung, schwere braune Stiefel und Sicherheitshandschuhe, die ihnen bis über die Ellenbogen reichen. Ihre Gesichter verdecken Schutzhelme, wie sie Schweißer tragen. Derjenige, der auf den Ofen steigt und mit einem Stab das Metall prüft, ist Hanns Martin Rincker. Er ist auch derjenige, der das Signal gibt, als das Zinn zu dem geschmolzenen Kupfer in den Ofen gegeben werden kann. Glockenbronze besteht aus etwa 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn. Alle Werkstatttüren müssen geschlossen sein. Sauerstoff und Wasserstoff sollen die reine Kupfer-Zinn-Legierung nicht infizieren, sonst könnte die Glocke winzige Löcher bekommen.
Gießen „in Gottes Namen“
Dann Ruhe. „Wie es sich vor einem liturgischen Glockenguss gehört, werden wir still vor Gott“, sagt Rincker. Er selbst sei im christlichen Glauben verwurzelt. Anders ginge es doch gar nicht, wenn man ein Instrument herstelle, das ausschließlich liturgischen Zwecken dient. Das sähen zwar nicht alle seine Kollegen so, aber aus seiner Sicht hätte das Instrument sonst keine Seele. Und deswegen müsse jede Glocke vorweg auch ein Gebet bekommen, „das ist mir ganz wichtig“. Lang darf das allerdings nicht sein, „nur eine halbe Minute, weil das Metall heiß ist. Dann müssen wir gießen.“ Das kurze Gebet spricht der Uttumer Pfarrer Hartmut Schaudinn: „Segne nun das Werk unserer Hände und gib zu unserem Wollen dein Vollbringen; damit die Glocken, die heute gegossen werden, bald verkünden können, was unsere Hoffnung ist und was auf der von Uttum geschrieben steht: ‚Jesus Christus spricht: Ich lebe, und ihr sollt auch leben.‘“Und so gießen sie „in Gottes Namen“. Die Hitze wird beinahe unerträglich. Die erste Form ist voll, das flüssige Metall spritzt gut 40 Zentimeter hoch aus dem Loch, Funken stieben in hohem Bogen durch den Raum. Der einst gelbe Pullover desjenigen, der vor dem Gussloch der Uttumer Glocke steht, ist bestenfalls noch schwarz-gelb gesprenkelt. Ein Gießer füllt Kohle auf das Loch. „In Gottes Namen“, sagt Rincker wieder. Die leuchtend glühende Bronze schießt die Rinne entlang zum nächsten Eingusstrichter. Die zweite Glocke wird gegossen.
Nach zehn Minuten sind alle acht Glockenformen gefüllt. Mindestens zwei Wochen lang bleiben sie jetzt in der Erde, bis sie soweit ausgekühlt sind, dass die Handwerker sie herausholen können. 600 Liter Öl sind für die Schmelze verbrannt. Rinckers Kopf ist krebsrot, er wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht, lacht zum ersten Mal an diesem Tag. Die Erleichterung ist ihm anzumerken. Dass ein Glockenguss einwandfrei klappt, ist trotz über 400-jähriger Firmentradition keine Selbstverständlichkeit. Unter den 40 Mitgereisten aus Uttum kreist eine Flasche Klarer. „Als kleine Gemeinde, 450 Seelen, haben wir das geschafft“, sagt einer stolz. (pro)
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