pro: Was ist das „Bündnis für Humane Bildung“?
Ralf Lankau: Das Bündnis ist ein Zusammenschluss von Menschen ganz unterschiedlicher Profession und Couleur, die sich gegen die Ökonomisierung und Verzweckung von Bildungseinrichtungen einsetzen. Wir beobachten seit Ende der 1970er Jahre eine starke Verschiebung der Aufgabe von Schulen, von Allgemeinbildung hin zur vorgelagerten Ausbildung. Statt Persönlichkeitsentwicklung und das Hineinwachsen in die Gemeinschaft steht die frühzeitige und „passgenaue“ Vorbereitung für den Arbeitsmarkt. Statt Wissen und Können als Basis der „Weltaneignung“, wie es eine Freiburger Kollegin formulierte, geht es zunehmend um kleinteilig messbare Lernleistungen, die in Kompetenzrastern und -stufen eingetragen werden. Das Ziel sind möglichst exakte Daten über Jede und Jeden als Basis für die datengestützte Schulentwicklung. Das Bündnis tritt stattdessen für Allgemeinbildung als Grundrecht ein, ohne diese schon in den Schulen zu verzwecken.
Sie sind seit Jahren unterwegs quer durch Deutschland in politischen Gremien, bei Kirchenvertretern und Vertretern von Schulen und Bildung. Welche Reaktionen erfahren Sie?
Das, was ich in den Vorträgen aufzeige, beleuchtet zweierlei: Was vor den Bildschirmen passiert und was dahinter. Auch wenn man vieles davon „an sich“ schon weiß, ist das Erschrecken groß, wenn ich es ausspreche. Dass sich das Leben und die Kommunikation der Menschen durch Smartphone & Co. geändert hat, beobachten wir täglich. Die Folgen lassen sich mittlerweile in medizinischen, psychologischen oder soziologischen Studien belegen. Covid-19 ist auch hier nur ein Brennglas. Noch erschreckender sind die Dinge hinter den Displays: Dass die „kostenlosen“ Dienste dazu dienen, personalisierte Daten zu sammeln und auszuwerten, um unser Verhalten zu beeinflussen.
Medien und Mediengestaltung sind Ihr Beruf. Wie arbeiten Sie mit den digitalen Medien?
Als Grafiker arbeite ich seit über 30 Jahren mit IT, als Pädagoge unterrichte ich genau so lange mit analogen wie digitalen Medien, davon 20 Jahre als Fernlehrer. Für die Grafik ist Digitaltechnik das zeitgemäße Werkzeug, beim Web zugleich Distributionskanal, in der Lehre eine mögliche Ergänzung. Die Kritik richtet sich nicht gegen die technische Codierung von Inhalten als analog oder digital, sondern gegen die Geschäftsmodelle der Datenökonomie, die auf unseren persönlichen Daten beruhen. Die amerikanische Kollegin Shoshana Zuboff hat 2018 das Buch „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ publiziert. Zusammen mit dem Kollegen Matthias Burchardt habe ich aufgezeigt, wie durch den Aufbau einer digitalen Infrastruktur in Schulen mit Schulcloud und Netzdiensten von IT-Konzernen eine Überwachungs-Pädagogik möglich wird. Dagegen wehren wir uns.
Die Befürworter digitaler Medien in den Schulen führen hingegen schon seit Jahren das Argument der Bildungsgerechtigkeit ins Feld. Individueller Unterricht dank maßgeschneiderter Angebote auf dem Tablet. Das klingt doch human?
Als Werbephrase, ja. Wenn man die technischen Hintergründe kennt, nicht. Um das sogenannte personalisierte Lernen zu ermöglichen, müssen Sie alle Handlungen und Lernleistungen des Kindes aufzeichnen und auswerten. Ich zitiere dazu Christoph Meinel vom Hasso Plattner-Institut, das die HPI-Schulcloud mitentwickelt: „Viele dieser interaktiven Systeme funktionieren nur, wenn sie den Nutzer kennen. Das bedeutet, dass Daten protokolliert werden: Was hat der Betreffende gestern gemacht? Welche Frage konnte er nicht beantworten? Wo müssen wir wieder ansetzen?“ Doch nicht nur das eigene Verhalten fließt in diese Lern- und Persönlichkeitsprofile ein. Auch die Lernleistungen aller anderen Probanden werden zum Vergleich herangezogen. Meinel schreibt im HPI-Blog dazu, dass man „Vergleichsanalysen mit den Verhaltensdaten aller anderen jemals eingeloggten Lerner durchführen und darauf aufbauend die weiteren Interaktionen dem anvisierten Lernziel entsprechend steuern“ könne. Das ist keine individuelle Betreuung, sondern ein automatisiertes, algorithmisch berechnetes Zurichten. Darum fordern wir, den Rückkanal für Nutzerdaten zu kappen. Nur ohne Datensammelei und Profilierung kann man mit digitalen Geräten in Schulen arbeiten.
Der Staat investiert nun Millionen in Endgeräte für Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien, um ihnen die Teilnahme am Fernunterricht zu ermöglichen.
Fernunterricht in Covid-19-Zeiten hat gezeigt, dass die Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit Endgeräten alleine nichts bringt, wenn nicht zugleich engagierte Lehrkräfte das Lernen zu Hause strukturieren, begleiten und betreuen. Es reicht ja auch nicht, Schulbücher oder Instrumente auszuliefern, damit ein junger Mensch alleine lernt oder musiziert. Die Pandemie hat vielmehr gezeigt, dass die technische Ausstattung zwar die Voraussetzung für Fernunterricht ist, dieser aber nur gelingt, wenn man sehr viel mehr interagiert, unterstützt und motiviert. Fernunterricht ist personalintensiv. Statt nur in Technik zu investieren, sollte man zum Beispiel Lehramtsstudierende engagieren, die Schülerinnen und Schüler bei der Gruppenarbeit oder Hausaufgaben betreuen. Nur dann wird ein tragfähiges Konzept daraus.
Was raten Sie Lehrern oder Schulleitern in der derzeitigen Situation, zum Thema Datenschutz und sinnvollem Umgang mit digitalen Medien?
In Baden-Württemberg haben mittlerweile alle Schulen Moodle als Lernplattform und BigBlueButton als Videokonferenztool eingerichtet bekommen. Nutzen Sie diese Dienste und die Fortbildungsangebote der Lehrerfortbildung Baden-Württemberg dazu. Arbeiten Sie mit Open Source Software, um digital souverän zu werden, statt Angebote von US-Konzernen zu nutzen. Binden Sie Schülerinnen und Schüler aus höheren Klassen ein, um die für Ihre Schule passende Infrastruktur aufzubauen. Wir müssen aus dem Konsum- in den Gestaltungsmodus wechseln, gerade in der IT.
Auch die sozialen Medien sind vom Kann zum Muss geworden in Corona-Zeiten. Nicht nur in der Kommunikation der Kinder und Jugendlichen untereinander, sondern auch mit den Lehrern. Wo sind die Gefahren?
Soziale Medien sind kein Muss, wenn damit eine indifferente Öffentlichkeit gemeint ist, also die Kanäle, die vor allem durch Eitelkeit, Lautstärke und Provokation auffallen. Hilfreich sind digitale Dienste, die die Kommunikation ermöglichen, solange der persönliche Kontakt coronabedingt untersagt ist. Dabei ist darauf zu achten, in geschlossenen Gruppen zu arbeiten, um Vorfälle wie jetzt in Berlin zu verhindern, dass pornographische Inhalte im Video-Chat für Grundschüler auftauchen. Wir müssen vor allem lernen, dass wir bestimmte Dienste nicht nutzen müssen, nur weil es sie gibt. Wir müssen fragen, was wir tatsächlich brauchen von den Online-Diensten und für was. Denn das wichtigste Privileg im 21. Jahrhundert wird es sein, selbst zu entscheiden, ob und welche Daten man von sich ins Netz stellt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Carola Bruhier