Nicht in die Kirche gehen, so viel ist für Andrew Absud klar, ist auch keine Lösung. Der 31-jährige Ägypter plant das Weihnachtsfest mit seiner Familie wie jedes Jahr nach Tradition der koptischen Christen. In der Nacht zwischen dem 6. und 7. Januar wird er mit seinen Eltern und seiner Schwester erst zur Mitternachtsmesse gehen. Danach gibt es Zuhause das üppige Weihnachtsessen nach mehr als 40 Tagen Fasten. Doch was sich so normal anhört, ist dieses Jahr anders: Hinter der Minderheit in Ägypten liegen 12 Monate des Terrors.
Vor einem Jahr, am 11. Dezember 2016: Die Gläubigen in der Kirche St. Peter und Paul in Kairo ahnen es nicht, aber unter ihnen ist ein Mann, der nicht zum Beten hergekommen ist. Wenig später erschüttert eine gewaltige Detonation das Gotteshaus neben der Kathedrale der Stadt. Fast 30 Menschen sterben und die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bekennt sich zu der Tat. Die Christen in dem Land am Nil – sie machen etwa zehn Prozent der mehr als 90 Millionen Einwohner aus – sind geschockt. Doch bei dem einen Attentat bleibt es nicht.
Der IS, dessen Ableger im Norden der unruhigen Sinai-Halbinsel zuvor vor allem Anschläge auf Sicherheitskräfte verübt hatte, nimmt plötzlich verstärkt die Kopten ins Visier. Eine Terrorwelle erschüttert in den folgenden Monaten das Land. Eine Mordserie an Christen auf dem Sinai veranlasst Hunderte zur Flucht. Im Nildelta sterben bei einem Doppelanschlag auf zwei Kirchen Dutzende Gläubige. Eine Horde Extremisten greift Ende Mai einen Bus an. Insgesamt sterben innerhalb eines Jahres mehr als 100 Kopten.
Christen als erklärtes Ziel des IS
„Nach vielen Bomben und viel Gewalt haben wir uns an die Situation gewöhnt“, sagt Fotograf Andrew Absud. „Und wir machen Witze drüber.“ Während der Messe witzeln er und seine Freunde dann, dass dies ja womöglich ihr letzter Kirchenbesuch sein könnte. Wenn sich der IS denn heute dafür entscheide zuzuschlagen.
Dabei hat die Gewalt gegen Christen in Ägypten eine viel längere Geschichte. Nach den arabischen Aufständen, die Langzeitherrscher Husni Mubarak 2011 zu Fall brachten, kam der Islamist Mohammed Mursi an die Macht. Unter seiner Herrschaft flammte die Gewalt gegen die Minderheit im Land erneut auf.
Nachdem auch Mursi 2013 gestürzt wurde, inszenierte sich der neue und amtierende Präsident Abdel Fatah al-Sisi als Schutzmacht der Kopten. Unter seiner Führung beruhigte sich die Lage wieder – bis der IS die Christen als Ziel erkannte, um das Ägypten unter dem autoritären Al-Sisi ins Wanken zu bringen und Zwietracht zwischen den Religionen zu säen. Große Anschläge auf Christen konnten die Sicherheitskräfte aber im vergangenen halben Jahr verhindern.
Und das Konzept der Dschihadisten geht zumindest teilweise auf, sagt Absuds Schwester Sara: „Die Gewalt hat ganz sicher einen Einfluss auf die Atmosphäre und das Befinden der koptischen Gemeinde“, sagt die Apothekerin. Diese fühle sich als Opfer.
„Du bist so süß, aber Du bist Christ“
Im konservativen Ägypten leben Muslime und Christen dabei überwiegend friedlich zusammen, teilweise Haus an Haus. Die größte christliche Gemeinschaft im Nahen Osten kann ihren Glauben frei ausleben. Doch Spannungen in dem Land, in dem Religion eine große gesellschaftliche Rolle spielt, spüren die Kopten trotzdem.
„Der Unterschied zwischen Muslimen und Christen war in Ägypten immer vorhanden“, sagt Fotograf Absud. Immer wieder sagten Muslime Sätze zu ihm wie: „Du bist so süß, aber Du bist Christ“. Er weiß, dass das Witze sind, doch einen wahren Kern hätten sie trotzdem.
Die große Fluchtwelle ist zwar vorbei: zwischen 2011 und 2014 haben geschätzt 93.000 der Millionen Kopten das Land verlassen. Dem Oberhaupt der Kopten, Papst Tawadros II. zufolge sollen von diesen viele wieder zurückgekehrt sein. Doch die Lage der Christen am Nil bleibt angespannt.
Zu Weihnachten kommt auch Sara Absud zurück nach Hause. Sie lebt mittlerweile in Paris – und hat damit das geschafft, worauf viele ihrer Freunde hofften, sagt die ausgebildete Apothekerin. Nicht nur Christen, viele junge Ägypter träumten von einem Job im Ausland, auch um der wirtschaftlichen Misere in ihrer Heimat zu entgehen. Saras Bruder Andrew freut sich nach der koptischen Fastenzeit trotz allem erst einmal auf Weihnachten. Vor allem, sagt er, auf den Käse, auf den er vorher verzichten musste.
Von: dpa