PRO: Herr Bedford-Strohm, mit welchen Eindrücken kehren Sie von Ihrer Reise aus der Ukraine zurück?
Heinrich Bedford-Strohm: Der stärkste Eindruck waren sicher die Begegnungen und Gebete in Butscha. Die Kriegsverbrechen von Butscha sind der wahrscheinlich schlimmste Ausdruck all des Leids, das der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Ukraine angerichtet hat und weiter anrichtet. In den ersten Kriegswochen, als die russische Armee direkt bis Kiew vorgerückt war, wurden in Butscha, einem Vorort von Kiew, über 400 Menschen umgebracht, die meisten davon Zivilisten. Vor der Kirche, die wir dort besucht haben, sind 119 von ihnen in einem Massengrab begraben worden, davon 115 Zivilisten, darunter 30 Frauen und zwei Kinder.
Später wurden die Leichname zur Identifizierung und kriminaltechnischen Untersuchung exhumiert und an unterschiedlichen Orten bestattet. Die Bilder sind um die Welt gegangen. Es war schwer, die Bilder von den Toten, die in der Kirche zu sehen waren, auszuhalten. Aber es ist die Realität. Die Geschichten, die der örtliche Priester uns von diesen Tagen im März 2022 erzählt hat, werde ich nie vergessen. Sie machen so verständlich, warum die Menschen in der Ukraine so dringlich um Unterstützung bei der Verteidigung ihres Landes bitten.
Am Gedenkort des früheren Massengrabes neben der Kirche haben ÖRK-Generalsekretär Jerry Pillay und ich gebetet. Im Anschluss haben wir in der Kirche zusammen mit allen im Ukrainischen Kirchenrat zusammengeschlossenen Kirchen eine Gebetsliturgie zum Gedenken an die Opfer gefeiert. Mehrfach, auch nachts, ist die Luftalarm-App mit einem lauten Ton losgegangen, in Kiew, aber auch auf der Fahrt dorthin. Dass man damit jetzt gelassen umgeht, hat nur damit zu tun, dass der Schutzschirm der Flugabwehr jetzt so gut funktioniert, dass die Gefahr sich in Grenzen hält.
Ich kann deswegen die pauschale Ablehnung aller Waffenlieferungen an die Ukraine nicht verstehen. Der Schutzschirm der Flugabwehrraketen rettet direkt Menschenleben.
Mit welchen Kirchen und religiösen Organisationen konnten Sie zusammentreffen und verhandeln?
Wir haben zunächst mit der Führung der ukrainisch-orthodoxen Kirche gesprochen. Sie war früher dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Direkt nach dem russischen Angriff hat sie den Krieg verurteilt. Auch in unseren Gesprächen mit der Führung haben wir klare Worte der Verurteilung des Krieges gehört. Trotzdem sieht sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, noch immer zu nahe mit Russland verbunden zu sein und gar Kollaborateure in ihren Reihen zu haben. Deswegen ist sie von der Regierung aus unter Druck geraten.
Dann haben wir mit dem Oberhaupt der „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ Metropolit Epiphany von Kiew und der ganzen Ukraine gesprochen. Die OKU ist 2018 gegründet worden und 2019 vom Ehrenoberhaupt der weltweiten Orthodoxie, dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus als selbständig („autokephal“) anerkannt worden.
Zwischen den großen Kirchen in der Ukraine gibt es massive Konflikte. Inwieweit beeinflusst oder behindert das die Friedensbemühungen?
Ein Konfliktpunkt zwischen beiden Kirchen, neben theologischen Unterschieden, ist die Frage, wie mit dem Wechsel von Klöstern und Gemeinden von der einen zur anderen Kirche umgegangen wird und welche Rolle die Regierung beziehungsweise die Sicherheitskräfte dabei spielen. Es geht auch um die Frage, wem Gebäude und Vermögen gehören oder wer sie nutzen darf. Gegenwärtig hat die Regierung etwa Maßnahmen ergriffen, um die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche zum Verlassen ihrer bisher vom Staat vermieteten geistlichen und administrativen Zentrale im Kiewer Höhlenkloster zu bringen. In unserem Gespräch hat Kulturminister Oleksandr Tkachenko unterstrichen, dass man die ukrainisch-orthodoxe Kirche nicht mit Gewalt aus dem Höhlenkloster entfernen werde. Das war eine wichtige Zusicherung.
Wie weit ist der Weg zum Frieden in der Ukraine aus Ihrer Sicht?
Der Weg – das muss man leider sagen – ist weit. Noch spiegeln sich die politischen Gegensätze sehr stark in den innerkirchlichen Konflikten.
Welchen Beitrag erhoffen Sie sich von den Kirchen in diesem Konflikt?
Im Gegensatz zur Politik haben wir als Kirchen die gemeinsame Grundlage unseres Glaubens an Jesus Christus. Allein darauf gründe ich meine Hoffnung. Wir haben unsere Rolle als Weltkirchenrat darin gesehen, die beiden Kirchen darüber in Dialog zu bringen und nach Lösungen zu suchen. Nur wenn wir gemeinsam agieren und wenn auf dieser Basis auch die russisch-orthodoxe Kirche einbezogen werden kann, können die Kirchen vielleicht auch eine Rolle bei der Beendigung des Krieges spielen.
Welche Vereinbarungen konnten Sie treffen? Oder waren die Begegnungen eher informativer Natur?
Wir sind in die Ukraine gefahren, um mit den Kirchen dort ins Gespräch zu kommen, die in einer schwierigen und von internen Spannungen geprägten Situation sind. Der Generalsekretär ist dann auch nach Russland gefahren, um dort mit der Kirchenführung zu reden. Ziel ist ein für Anfang Oktober ins Auge gefasster dreitägiger runder Tisch auf neutralem Gebiet, vorzugsweise in Genf, an dem sowohl die ukrainischen Kirchen als auch die russisch-orthodoxe Kirche teilnehmen. Am ersten Tag wollen wir mit den ukrainischen Kirchen reden, am zweiten Tag mit der russisch-orthodoxen Kirche und am dritten Tag wollen wir alle miteinander ins Gespräch bringen.
Welche Botschaft können Sie nach dem Treffen aussenden?
Ob es uns gelingt, wenigstens die Kirchen der im Krieg befindlichen Länder zu einer gemeinsamen Haltung zu bewegen, die Türen in Richtung Frieden öffnen kann, liegt in Gottes Hand. Versuchen müssen wir es. Wir dürfen uns nie mit einem Andauern dieses schrecklichen Krieges abfinden! Unser Besuch in der Ukraine hat mich ermutigt, dass wir als Kirchen eine Rolle spielen können, um dem Frieden näherzukommen.
Vielen Dank für das Gespräch!