Vor 85 Jahren fanden die Novemberpogrome statt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in ganz Deutschland Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen. Mehrere hundert Juden wurden ermordet. Vertreter aus Kirche und Politik gedenken dieser Tage den Juden, die diesem zum Opfer fielen.
Es sei „unerträglich, dass Jüdinnen und Juden 85 Jahre nach den Pogromen des 9. November 1938 sich nicht sicher fühlen in unserem Land“, dass sie Angst hätten, ihre Kinder in die Schule zu schicken, und dass Hausfassaden mit dem Davidstern beschmiert würde, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Unter dem Titel „Krieg in Nahost: Für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland!“ diskutierte er in seinem Amtssitz im Schloss Bellevue mit verschiedenen Gästen, auch die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer war eingeladen. „Unser Land, unserer Gesellschaft ist gefordert wie lange nicht“, sagte Steinmeier.
„Ich kann Ihnen das Entsetzen über aggressive judenfeindliche Kundgebungen in Deutschland nicht nehmen. Aber ich will Ihnen versichern, dass dieses Land nicht ruhen wird, solange Sie um Ihre Sicherheit und die Sicherheit Ihrer Kinder fürchten müssen“, sagte Steinmeier laut Redemanuskript an Juden gerichtet. Antisemitismus werde in keiner Form in Deutschland geduldet.
Trotzdem dürfe man Muslime nicht unter Generalverdacht stellen. Um die zivilen Opfer in Gaza dürfe getrauert werden. Dies friedlich zu tun, sei von der Verfassung garantiert.
„Wer in Deutschland lebt, muss Auschwitz kennen“
„Aber Terrorismus, Volksverhetzung und der Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel sind nicht Teil dieser Garantie, und ich erwarte, dass wir gemeinsam dagegenhalten“, sagte Steinmeier. Die Palästinenser würden selbst zu Opfern des Hamas-Terrors: „Ich bitte Sie, die Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln in Deutschland: Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren!“
„Wer in Deutschland lebt, muss Auschwitz kennen und die Verantwortung, die daraus erwächst. Jüdisches Leben in Deutschland zu schützen, ist Staatsaufgabe und Bürgerpflicht“, sagte Steinmeier.
Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sagte, der Kampf gegen Antisemitismus müsse von der ganzen Gesellschaft geführt werden. „Antisemitismus ist ein Angriff auf die universalen Werte unseres Zusammenlebens, ein Angriff auf die Würde des Menschen.“ Diese Werte im Alltag zu schützen, heiße, nicht wegzusehen, wenn Juden angegriffen werden, und nicht zu schweigen, wenn über sie gelästert werde.
Bätzing forderte mehr Sensibilität in den historischen, theologischen und politischen Debatten für das Thema. Es sei für Juden „verletzend und zermürbend“, immer wieder mit denselben Zerrbildern,
Vorurteilen und Vorwürfen konfrontiert zu werden.
Von seiner Kirche forderte er ein entschlosseneres Auftreten: „Das Schweigen der katholischen Kirche in Deutschland zur Judenverfolgung beschämt mich.“ Auch die deutschen Bischöfe hätten in der Nacht und in den Tagen nach der Pogromnacht geschwiegen. Daher sage er heute für die katholische Kirche in Deutschland: „Wir werden uns mit allen Mitteln als Kirche gegen jede Form des Antisemitismus stemmen. Nie wieder sollen Juden in Deutschland angefeindet und bedroht werden.“
Als Christen die Stimme erheben
Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel, rief ebenfalls zum Schutz jüdischen Lebens auf. „Antisemitismus hat bei uns nichts zu suchen: nicht auf unseren Straßen oder Schulhöfen, nicht in Kirchen oder Moscheen, nicht an Stammtischen, nicht in Chaträumen oder bei Demonstrationen, nicht in unserem Land. Nirgendwo.“
Es sei eine Schande, dass sich jüdische Mitbürger auf Deutschlands Straßen wieder unsicher fühlten, wenn sie eine Kippa oder einen Davidsstern trügen und dass Israel-Fahnen brennen und anti-israelische Kundgebungen stattfinden.
„Christinnen und Christen haben damals angesichts der Pogromnacht nicht nur versagt im Schutz von jüdischem Leben, sie waren in großer Zahl sogar mit zu Täterinnen und Tätern geworden“, so Latzel. Deshalb seien sie heute besonders gefordert, sich für Juden einzusetzen. „Wir dürfen nicht schweigen! Wir müssen handeln, wenn unsere jüdischen Geschwister bedroht werden.“
EKD: Kein Platz für Judenhass
Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Anna-Nicole Heinrich, sagte in einer Stellungnahme, die Gesellschaft müsse sich „entschlossen gegen alle Formen des Judenhasses stellen“. Es sei besonders Aufgabe der Christen, immer wieder an die damalige Gewalt gegen Juden zu erinnern.
Die EKD-Ratsvorsitzende, Annette Kurschus, bezeichnete es als „unerträglich“, dass Juden derzeit wieder Angst hätten, auf die Straßen zu gehen. „Antisemitismus, egal in welcher Form, darf in Deutschland keinen Platz haben. Es gibt keine Rechtfertigung für Judenhass.“
Auch Altbundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich zum Jahrestag der Pogrome. Juden müssten sich in Deutschland sicher fühlen können. Die Sicherheit Israels sei zudem deutsche Staatsräson. „Wer den legitimen Wunsch nach einem palästinensischen Staat, wer legitime Kritik am politischen Handeln unseres Landes und dem des Staates Israel auf propalästinensischen Demonstrationen nur als Deckmantel benutzt, um seinen Hass auf den Staat Israel und auf Juden auszuleben, der missbraucht unsere wertvollen Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.“
Jeder, der in Deutschland lebt, müsse sich zu den Werten des Grundgesetzes bekennen, so Merkel.
Mit Bildung gegen das Vergessen
Der Vorstand von „Zeugen der Zeitzeugen e.V.“ teilte mit, es sei „unerträglich, dass heute – 85 Jahre nach der Pogromnacht – die letzten noch lebenden Zeitzeugen der Schoah erleben müssen, wie der Antisemitismus in unvorstellbarer Weise wieder aufbricht“. Um jüdisches Leben zu schützen, brauche es insbesondere Bildungsangebote mit Begegnungen, um totalitären Ideologien vorzubeugen. „Bildung zur Shoah muss mit Aufklärung über den heutigen israelbezogenen Antisemitismus verbunden und den Lehrkräften entsprechende Unterstützung angeboten werden.“ Das zeige auch die Situation in Sozialen Medien und in den Klassenzimmern der Schulen.
„Zeugen der Zeitzeugen“ ist ein Bildungsprojekt von und für junge Menschen. Ziel des Vereins ist es, mit der letzten Generation der Holocaust-Überlebenden, deren Kindern und Enkeln in Kontakt zu kommen, mit ihnen in einen Dialog zu treten und das Gedenken an den Holocaust lebendig zu halten. Der Verein hat bereits viele Bildungsprojekte mit Zeitzeugen an Schulen organisiert.
Von: epd/Swanhild Brenneke