PRO: Herr Höke, welche Erinnerung haben Sie an den Bau der Mauer?
Thomas Höke: Ende Juni 1961 war ich zum ersten Mal mit meiner Familie im Urlaub. Wir sind mit der Reichsbahn von Spandau in die Nähe von Hamburg gefahren und haben dort Urlaub in der Ferienwohnung eines Bekannten gemacht. Dort gab es keinen Fernseher. Wir haben abends vor dem Kofferradio gesessen und Nachrichten gehört. Ich kann mich erinnern, dass Vater sagte: „Wir fahren früher zurück. Wer weiß, ob sie uns noch reinlassen.“ Es lag da was in der Luft.
Sie haben das als Fünfjähriger bemerkt?
Ja, das habe ich sehr wohl bemerkt. Als Fünfjähriger merkt man, dass irgendwas im Busch ist, wenn die Eltern so nervös sind. Mein Vater war Elektriker und eigentlich die Ruhe selbst. Die Erkenntnis, was da genau passiert war, kam natürlich viel später.
Haben Sie Erinnerungen an den Tag des Mauerbaues?
Ich weiß noch sehr genau, dass ich am 13. August mit meinem Vater mit der S-Bahn von Spandau nach Moabit zu meinen Großeltern gefahren bin. Mit meinem Opa und meinem Vater sind wir im Bus in Richtung Bornholmer Straße gefahren, wo auf Ostberliner Gebiet ein Teil unserer Verwandtschaft lebte. Als wir aus dem Bus ausgestiegen sind, hat mich mein Opa fest an die Hand genommen. Ich muss dann meinen Vater gefragt haben, warum an den Häusern unten die Fenster zugemauert sind. Damals wusste ich natürlich nicht, was da vor sich ging. Ich dachte, da würden neue Häuser gebaut. In Dokumentationen sieht man, dass Menschen versuchten, aus den Fenstern der oberen Stockwerke in den Westen zu springen. Daran kann ich mich nicht erinnern. Mein Vater hat mir später erzählt, dass mein Opa regelrecht Angst hatte. Laut meinem Vater hat er gesagt: „Hoffentlich gibt’s keinen Krieg!“ Die Stimmung war sehr angespannt.
Wann haben Sie bewusst wahrgenommen, dass sich etwas grundlegend verändert hatte?
Mit meiner Einschulung am 1. April des folgenden Jahres. Ich habe mich gewundert, dass mein Patenonkel und meine Patentante nicht da waren. Wir hatten eine sehr enge Familienbande. Mir war klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Mein Patenonkel Gerd lebte in Köpenick, meine Patentante in der Tiroler Straße. Mir wurde irgendwann richtig bewusst, dass sie nicht kommen konnten, weil da eine Grenze in der Stadt ist.
Haben Sie später Kontakt mit den Verwandten im Osten aufrechterhalten?
Ja, aber erst zu Weihnachten 1963 gab es für uns Westberliner die erste Passierscheinregelung. Wir konnten für Weihnachten einen Passierschein beantragen, um unsere Verwandten zu besuchen und für 24 Stunden in Ost-Berlin einreisen. Das stundenlange Warten auf die Einreise war für uns Kinder eine Qual. Von Spandau aus sind wir, wenn ich mich richtig erinnere, über den S-Bahnhof Friedrichstraße in den Osten gefahren. Kurioserweise wurde die S-Bahn als Teil der Reichsbahn in ganz Berlin von der DDR betrieben. Wir sind jeweils mit der ersten S-Bahn morgens um fünf Uhr los, um den Tag auszunutzen. Wir haben mit den Besuchen ganz im Osten begonnen und uns dann Richtung Berlin Mitte vorgearbeitet. Ich kann mich auch noch erinnern, dass mein Bruder und ich einen Hustenanfall bekommen haben, weil in Berlin mit Koks geheizt wurde und alles eine dicke Rauchschwade war. Durch das Geruckel in den öffentlichen Verkehrsmitteln wurde es mir immer relativ schnell übel. Gegen Mitternacht sind wir todmüde wieder zu Hause angekommen. Nach dem Vier-Mächte-Abkommen hat sich das alles gebessert. Der Kontakt zur Familie im Ostteil der Stadt ist nie abgerissen, egal welche Schwierigkeiten damit verbunden waren.
Haben Sie noch Erinnerungen aus der Jugendzeit?
Wenn ich zu meinen Cousins und Cousinen in den Ostteil fuhr, musste ich zehn Mark gegen Ostmark eintauschen. Das war viel Geld. Wir haben immer vom „Eintrittsgeld“ gesprochen. Im Osten habe wir das in „Broiler mit Sättigungsbeilage“ umgewandelt, also ein halbes Hähnchen und etwas, das gerade da war. Den Rest haben wir oft am Alexanderplatz in Schallplatten investiert, weil wir das Geld nicht mit zurücknehmen durften. Die Platten habe ich heute noch. Meinen Cousins habe ich immer mal Zeitschriften mit in dem Osten geschmuggelt. Mit einer „Bravo“ warst du drüben der König. Meine Cousins mussten die Zeitschrift aber vor ihren Eltern verstecken, die in er katholischen Kirche St. Hedwig aktiv waren. Die hätten das nicht akzeptiert.
Wie haben Sie die Mauer später empfunden?
Wir mussten uns damit arrangieren und haben es nachher einfach gar nicht mehr so direkt wahrgenommen. Für Berliner war die Mauer einfach eine gewisse Normalität. Ein Ärgernis blieb sie bis zum Schluss. Ändern konnten wir daran nichts. Ein DDR-Verwandter war später bei den Grenztruppen. Er hat einen Flüchtling an der Grenze bei der Flucht erschossen. Das bot Gesprächsstoff für die ganze Familie im Osten und hat den Sinn der Mauer total in Frage gestellt. Der Mann ist damit nicht fertig geworden und hat sich deswegen selbst später umgebracht. Die Mauer war nicht wegzudiskutieren und auch nicht wegzugucken.
Wo waren Sie, als am 9. November 1989 die Mauer fiel?
Seit 1979 lebe ich mit meiner Frau Esther in Hessen. Ich habe auf der Rückfahrt von einer Baustelle in Frankfurt im Autoradio gehört, dass sich was an der Grenze zur DDR tut. Ich musste noch einen Kollegen nach Hause fahren und war gegen 20 Uhr daheim. Wir haben dann die „Tagesschau“ geguckt. Dann habe ich sofort meine Eltern in Berlin angerufen. Wir haben alle geheult und konnten es kaum fassen. In diesem Monat hatten wir eine horrende Telefonrechnung. Da ist mir bewusst geworden, dass ich ein Stück deutscher Geschichte erlebt habe. Ich war beim Bau der Mauer in Berlin dabei und durfte jetzt die plötzliche Öffnung miterleben. Wir hatten Jahrzehnte für den Fall der Mauer gebetet und fast schon nicht mehr daran glauben können. Und dann wurde das Wunder wahr.
Vielen Dank für das Gespräch.