Winfried Kretschmann: „Christus ist Mensch und Gott“

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) gab im Rahmen eines „Vision.Bach“-Konzerts einen Impuls zum Thema „Er stürzt die Mächtigen vom Thron“. Im PRO-Interview zieht er politische Lehren aus dem Lobgesang der Maria.
Von PRO
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann

PRO: „Demokratie ist Macht auf Zeit, verliehen von den Wählerinnen und Wählern als Souverän.“ Sagen Sie mit Blick auf das demokratische Prinzip, dessen Hoffnung sich aus Ihrer Sicht auch im „Magnificat“, dem Lobgesang der Maria, erfüllt. Aber was, wenn die Wählerinnen und Wähler sich auf die Seite von Parteien schlagen, die dem demokratischen Prinzip eben nicht folgen wollen?

Winfried Kretschmann: Wenn Menschen Parteien wählen, die mit der Demokratie auf Kriegsfuß stehen, das ist etwas ganz Paradoxes. Dann stürzt das Volk sich selbst vom Thron. Die Bundesrepublik ist aus der Lehre unserer Geschichte als wehrhafte Demokratie angelegt, die für die Freiheit einsteht und die mit Argumenten überzeugt. Es ist uns Politikerinnen und Politikern aufgetragen, ein Land gut zu regieren. Das können wir aber nur, wenn wir die Anliegen und Sorgen der Menschen kennen und die Bürgerschaft hören. In Baden-Württemberg haben wir dieses Zuhören institutionalisiert und die Politik des Gehörtwerdens eingeführt. Das Herzstück sind unsere Bürgerforen, zu denen wir sehr bewusst und nach dem Zufallsprinzip die sogenannten stillen Bürgerinnen und Bürger einladen. Also gerade nicht jene, die in irgendeiner Form eine Funktion haben, bestimmte Interessen vertreten und schon einen unverrückbaren Standpunkt zu einem Thema haben. Meine Mentorin Hannah Arendt hat das klug formuliert: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.“ Diesen Perspektiven müssen wir in einer Demokratie Raum geben. Probleme lösen wir durchaus auch im Streit, aber der muss zivilisiert ablaufen. Unzivilisierter Streit treibt die Gesellschaft auseinander.

An welcher Stelle berührt Sie das „Magnificat“ persönlich?

Wo Maria sagt, dass Gott auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut hat. Da wird eine Frau aus dem Volk zur Gottesgebärerin! Hier klingt das Kommen des Christus an. Gott wird Mensch. Christus ist Mensch und Gott. Diese Göttliche zeigt sich übrigens auch in der Kreativität, die uns Menschen zu eigen ist. Das überraschend Gute in uns kann uns aus Krisen befreien. Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe haben eine enorme Kraft. Das erlebe ich etwa bei Kirchentagen. Da bekommt eine Stadt einen völlig anderen Sound, eine andere, friedlichere Gesinnung.

Was lieben Sie an Johann Sebastian Bach?

Bach ist einer der größten Komponisten überhaupt. Mich bewegt besonders der Jubel, der sich in vielen seiner Werke zeigt. „Erfreut euch, ihr Herzen.“  Zu Bach gekommen bin ich über seine Orgelmusik, diese gewaltigen Stücke. Seine Musik dringt bis ins Innerste und bringt etwas zum Schwingen. Und: Sie erlaubt einen niederschwelligen Zugang zum Glauben. Über Bachs Musik lassen sich auch säkulare Menschen erreichen.

In Ihrem Leben gehört der christliche Glaube existenziell dazu. Inwiefern hilft Ihnen – beim Blick auf die persönlichen Befindlichkeiten, beim Blick auf lokale und globale Krisen – das Gebet, vielleicht auch das gemein­same Gebet?

Es ist gut, dass uns die Tradition Texte überliefert hat, an denen man sich festhalten kann. Das gilt etwa für das Vaterunser. Wenn dieses Gebet in einem Gottesdienst gesprochen wird, kommen Menschen mit ganz unterschiedlicher Stimmung, mit unterschiedlichen Anliegen und Erfahrungen zusammen. Traurig, dankbar, klagend. Gemeinsam können sie Worte sprechen, in denen ihre Individualität ein Stück weit aufgeht. Das ist – auch für mich – ein großer Schatz.

Auf Ihrem Schreibtisch hat seit Beginn Ihrer Amtszeit als Ministerpräsident ein Schutzengel seinen Platz …

Ja. Und er hat eine besondere Aufgabe. Er mahnt mich zur Selbstreflexion. Dieser Engel erinnert mich daran, meine Gefährdungen im Blick zu behalten, meine Ängste wahrzunehmen, meine Grenzen zu erkennen. Das Himmelswesen hilft mir, geerdet zu bleiben. Mit aller Macht.

Vielen Dank für das Gespräch.

Von: Claudia Irle-Utsch

Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 1/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO. Bestellen Sie PRO kostenlos hier.

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