Ulf Poschardt muss in eine offene Wunde gestochen haben. Sein Tweet zum Heiligen Abend jedenfalls verursachte einen gehörigen Aufruhr. Der Chefredakteur der Welt hatte getwittert: „Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?“
Der Journalist hatte die Christmette der Gemeinde Nikolassee im Südwesten Berlins besucht. Die Predigt von Pfarrer Steffen Reiche war ihm gegen den Strich gegangen. Reiche hatte darin viele politische Themen angesprochen: von den Steuererhöhungen in den USA, über die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, über Putin und das Doping im russischen Sport, den Marshallplan bis zum Islam und dem Terror durch den IS.
Die Wochenzeitschrift „Christ und Welt“ hat die beiden nun für ihre aktuelle Ausgabe interviewt. Sie will damit den Konflikt versachlichen, der sich in hässlichen Retweets immer weiter aufgebauscht hat, und zu üblen Beschimpfungen bis hin zu Nazi-Vergleichen gegenüber Poschardt führte. Eine traurige Wirklichkeit im Zeitalter der Sozialen Medien.
Die Debatte selber ist es wert, weiter geführt zu werden. Wieviel Politik gehört auf die Kanzel?
Für mich steht fest: Predigten sind immer politisch. Ein Prediger verkündet das Wort Gottes. Er predigt das Evangelium, die gute Nachricht von Jesus Christus. Er spricht davon, dass Gott in die Welt gekommen ist, und dass damit das Reich Gottes angebrochen ist. Diese Botschaft besitzt Relevanz für das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft. Warum sonst sagen wir sie weiter?
Eine Theologie, die sich nur um sich selber dreht, ist bedeutungslos, sie wird zum geistlichen Elfenbeinturm. Wenn Theologie und Verkündigung aber relevant sind für unser Leben und unser Zusammenleben, dann sind sie natürlich auch politisch. Die zehn Gebote, die Bergpredigt, Jeremia und Amos – das sind hochpolitische Texte. Es braucht schon einige exegetische Verrenkungen, um Begriffe wie Gerechtigkeit und Frieden, oder um Werte wie Treue und Ehrlichkeit ihrer politischen Dimension zu entkleiden. Martin Luthers Verkündigung war tief geistlich, und hat damit zugleich die Gesellschaft verändert. Das machte sie politisch. Eine biblische Predigt bezieht Positionen, und auch das ist immer politisch. Wer – um nur ein Beispiel zu nehmen – heute über die Ehe als gute Ordnung Gottes spricht, ist hochpolitisch, ob er will oder nicht. Insofern kann ich Steffen Reiche zustimmen, wenn er sagt: „Wenn eine Predigt keine Wirkung im politischen Raum hat, dann ist es auch nicht die Botschaft Jesu.“
Evangelium ist kein Parteiprogramm
Vorsicht allerdings ist geboten, wenn die Verkündigung zur (verkappten) Parteipolitik wird. Der Prediger hat sich mit Wahlempfehlungen einerseits oder Parteienschelte andererseits bitte vornehm zurückzuhalten. Suspekt ist mir auch, wenn ein Prediger auf politische Fragen pauschale, vermeintlich biblische Antworten gibt. Bewahrung der Schöpfung? Natürlich. Aber wie? Mit Windkraft oder Kohle? Brauchen wir die Kernenergie: ja oder nein? Meine Bibel sagt dazu nichts. Frieden stiften? Natürlich, Jesus fordert dazu auf. Aber wie? Mit oder ohne Waffen? Das beantworten Christen sehr unterschiedlich – obwohl sie die gleiche Bibel lesen. Als Christ und als Prediger habe ich eine Meinung. Auch eine politische Meinung. So sollte es sein. Das Evangelium ist aber nicht nur eine Meinung. Es ist keine Philosophie und kein Parteiprogramm. Es ist das Wort Gottes. Und das hat sich nicht nach mir zu richten, sondern ich mich nach ihm.
Was in einer Predigt übrigens gar nichts zu suchen hat, sind Beleidigungen. Und da ist Reiche am Heiligabend weit über das Ziel hinausgeschossen: „Aber man muss schon so blöde sein wie dieser Staatsverführer und Trampel (ergänze: Donald Trump), der nicht mal seine Haftcreme für seine x-ten Zähne richtig zu verwenden weiß…“. Wer politisch ernstgenommen werden möchte, der sollte Argumente nicht durch Polemik ersetzen.
Und noch eines: Das Evangelium ist mehr als Politik. Das Wort Gottes besitzt eine andere, weit über das gesellschaftliche und politische Tagesgeschäft hinausgehende Dimension. Ulf Poschardt trifft des Pudels Kern, wenn er sagt: „Die unsichtbare Trennwand in der Debatte war eine metaphysische.“ Mit anderen Worten: Es geht in der Kontroverse nach seinem Tweet nicht nur um die Frage, ob der Prediger Grün oder Rot ist, ob konservativ oder liberal, politisch oder unpolitisch, sondern darum, welche Rolle Gott eigentlich in der Verkündigung spielt. Macht der Prediger ein geistliches Angebot, das über Tagesschau und Spiegel Online hinaus geht? Poschardt erzählt von seinem Studium bei den Jesuiten. „Die klugen, umfassend gebildeten Patres haben mich schwer beeindruckt. Sie haben mich – etwas philosophisch formuliert – aus meiner transzendentalen Obdachlosigkeit immer wieder befreit.“
Das Evangelium spricht vom lebendigen Gott, vom Schöpfer des Himmels und der Erden. Von Jesus Christus, vom Kreuz und von der Auferstehung. Das Evangelium bringt eine Perspektive der Ewigkeit in die Zeit. Ein Prediger, der das Wort Gottes ohne diese Aspekte verkündigt, der predigt eigentlich gar nicht. Er mag eine kluge Rede halten, aber eben keine Predigt. Die Kanzel ist nicht das Katheder für die Theorien der ideologischen Weltverbesserer, sie ist nicht die Psycho-Couch für Seelenmasseure, nicht das Podium für angesagte Erfolgsrezepte von Promitrainern, und sie ist auch nicht das Pult für politische Reden. Die Kanzel ist der Ort, an dem das Wort Gottes zu Gehör gebracht wird. Das hat politische Konsequenzen, aber eine Predigt darf sich in der Politik nicht verlieren.
Von: Uwe Heimowski