Wie tonnenschwerer Beton

Einsamkeit ist in Deutschland ein verbreitetes Phänomen – und etwas anderes als Alleinsein. Einsamkeit kann die Gesundheit schädigen wie Rauchen, und sie betrifft alle Altersgruppen. Selbst im christlichen Kontext fühlen sich viele Menschen trotz der intensiven Gemeinschaftszugehörigkeit einsam.
Von Norbert Schäfer
Einsamkeit

Millionen Deutsche fühlen sich einsam, das zeigen Studien. Auch Marlene (Name geändert) hat unter Einsamkeit gelitten. Vor zwei Jahren saß sie in der gewohnten Stuhlreihe ihrer Kirche, die sie bereits fast ihr ganzes Leben lang besucht. Mit gerade 60 Jahren fühlte sie sich einsamer denn je, obwohl sie von vertrauten Gesichtern in ihrer Gemeinde umgeben war.

Ihr Mann, mit dem sie mehr als dreißig Jahre verheiratet war, hatte sie nach einer Reha-Maßnahme wegen einer jüngeren Frau verlassen. Der Schock der Scheidung saß bei Marlene tief. Nicht nur wegen des Verlustes, sondern auch, weil Freunde in der Kirchengemeinde zwar anfänglich ihr Mitgefühl ausdrückten, aber sie dann kaum noch beachteten. Dabei kannte man sich seit Jahren aus der Gemeinde, dem Hauskreis und von gemeinsamen Freizeit-Aktivitäten. Auch während der Gottesdienste empfand sie Einsamkeit. Gerade dann, wenn der Pastor von Gemeinschaft, Unterstützung durch Glauben oder über die Ehe predigte. Und weil sie sich schäme, dass sie eine „Geschiedene“ ist, machte sie sich förmlich unsichtbar. Mit der Folge, dass sie nach dem Gottesdienst, wenn sich die Familien verabschiedeten und für nachmittags zum Kaffee verabredeten, regelmäßig übersehen wurde. „Dann spürte ich die Einsamkeit wie einen tonnenschweren Betonklotz“, erinnert sich Marlene. Die Einsamkeit schmerzte.

Dabei thematisieren viele biblische Texte Momente tiefster Einsamkeit: Jesus in Gethsemane, sein Tod am Kreuz auf Golgatha oder Berichte von Paulus in der Kerkerhaft. „Diese biblischen Erzählungen zeigen, dass Einsamkeit ein zutiefst menschliches Erleben ist, das aber auch durch Glauben und Gemeinschaft überwunden werden kann“, sagt der Rektor der Freien Theologischen Hochschule Gießen (FTH), Stephan Holthaus, gegenüber PRO.

Einsamkeit ist eine universelle menschliche Erfahrung, die alle Altersgruppen betrifft und die jeder in irgendeiner Form erlebt. Ältere und jüngere Menschen sind am häufigsten betroffen, Frauen mehr als Männer, Menschen in den westdeutschen Ländern weniger als in den neuen Bundesländern. Studien zeigen, dass Einsamkeitsbelastungen mit einer erheblichen Verschlechterung der psychischen und physischen Gesundheit der Betroffenen einhergehen. Wer sich dauerhaft einsam fühlt, hat ein höheres Risiko, am Herzen, an einem Schlaganfall oder an Demenz zu erkranken. Der negative Effekt von Einsamkeit ist in etwa vergleichbar mit dem täglichen Konsum von 15 Zigaretten.

Symptome für Einsamkeit

Im Jahr 2021 kannte laut Bundesfamilienministerium etwa jeder Zehnte (11,3 Prozent) das unangenehme oder gar schmerzhafte Gefühl, wenn die sozialen Beziehungen als unzureichend empfunden werden. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl. Anders das Alleinsein. Es bezeichnet einen zeitweiligen Zustand, in dem keine anderen Personen in der Nähe sind. Einsame haben das Gefühl, dass ihnen die Gesellschaft anderer fehlt.

„Einsamkeit ist grundsätzlich ein Risikofaktor für Erkrankungen, der nicht automatisch zu einer Krankheit führt, aber die Wahrscheinlichkeit zu erkranken, deutlich erhöht. Das gilt vor allem für psychische Erkrankungen, zum Teil auch für körperliche“, erklärt der Chefarzt der Klinik Hohe Mark, Markus Steffens. Das Gefühl permanenter Einsamkeit lasse in einem Menschen das Spannungslevel so ansteigen, dass schließlich eine Schwelle durchbrochen werde und dann Merkmale einer Krankheit sichtbar würden.

Als Symptome nennt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie anhaltende niedergeschlagene Stimmung, Energie- und Appetitverlust sowie Antriebslosigkeit beim Patienten. Weil bei einsamen Menschen auch das Selbstwertgefühl leidet und Schuldgefühle bis hin zu suizidalen Gedanken auftauchen, ist häufig eine Depression die Folge. Auch Angst- und Zwangsstörungen oder Demenzerkrankungen können durch Einsamkeit begünstigt werden.

Wie kann man dem entgegenwirken? „Es ist sehr deutlich, dass positive, gelingende soziale Kontakte einen erheblichen Schutzfaktor darstellen hinsichtlich der Gefahren im Auftreten von psychischen Erkrankungen“, erklärt der Mediziner. Nicht die Quantität sozialer Kontakte, sondern deren Qualität sei dabei entscheidend – also wertschätzende, achtsame Begegnungen von Menschen untereinander, wie man sie im Sport, in einem Verein, einem Chor oder einer Kirche erlebe.

Auch Junge sind betroffen

Der Psychiater Manfred Spitzer bezeichnete bei einer Tagung des Deutschen Ethikrates im Juli Einsamkeit als „Killer Nummer eins“. Einsamkeit sei „tödlich, ansteckend und schmerzhaft“, erklärte der Hirnforscher. Studien zeigen, dass Einsamkeit die Sterblichkeit in stärkerem Ausmaß befördert als Übergewicht oder Bluthochdruck. Weil Einsamkeit den Betroffenen und deren Umfeld – der wirtschaftliche Schaden ist bislang nicht zu beziffern – schadet, hat die Bundesregierung 2023 eine Strategie und Maßnahmen beschlossen mit dem Ziel, „das gesellschaftliche Miteinander zu stärken und Einsamkeit stärker zu beleuchten, um Einsamkeit in allen Altersgruppen vorzubeugen und zu lindern“. Zudem untersucht ein „Einsamkeitsbarometer“ nun die Langzeitentwicklung der Einsamkeitsbelastungen innerhalb der deutschen Bevölkerung.

Dass Einsamkeit im fortgeschrittenen Alter ein Problem ist, haben die meisten Kirchen erkannt. Aber wie sieht es am anderen Ende des Altersspektrums aus? Fest steht: Einsamkeit betrifft nicht nur ältere Menschen, sondern zunehmend auch junge – und nicht erst seit Corona. Eine Bertelsmann-Studie vom März 2024 stellt fest, dass sich 46 Prozent der 16- bis 30-Jährigen in Deutschland einsam fühlen. „Einsame Jugendliche versuchen überall dabei zu sein, stehen häufig aber nur am Rand“, erklärt Judith Hildebrandt, Leiterin der Fachforschungsstelle für Kinder- und Jugendarbeit „Youth Inside“, und weiter: „Manche meiden Gemeinschaft, Gottesdienste und Gruppenstunden, andere kommen früh und bleiben auch nach dem Ende noch lange da. Einige reden viel, andere gar nicht.“ Einsamkeit äußert sich bei Jugendlichen also unterschiedlich. Es gibt keine eindeutigen Erkennungszeichen.

Einen Grund erkennt die Theologin in Veränderungen im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Eltern zeigten seit einigen Jahren ein starkes Bestreben, ihre Kinder zu schützen, und der Einzug von Smartphones in die Kinderzimmer ab 2010 verstärke diesen Trend. „Beide Faktoren verhindern zunehmend, dass Heranwachsende in der realen Welt durch freies Spiel eigene Erfahrungen machen und so dauerhafte und verlässliche Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen können“, sagt die Wissenschaftlerin. Schon vor Corona habe diese Generation „Social Distancing“ praktiziert. „Viele Jugendliche haben Schwierigkeiten, sich sozial und emotional eng mit anderen Menschen zu verbinden. Es kann sein, dass Jugendliche sich sogar mitten in einer Gruppe einsam fühlen.“

Wie kann christliche Jugendarbeit helfen, dass Jugendliche ihre Einsamkeit überwinden? „Zugehörigkeit entsteht nicht durch die Teilnahme an Programmen oder Events, sondern durch Beziehungen“, sagt die Theologin an der FTH Gießen. Eine Studie habe gezeigt, dass sich nur noch neun Prozent der Jugendlichen einsam fühlen, wenn sie Kontakt zu fünf erwachsenen Vertrauenspersonen haben. Es sei unabdingbar, Jugendarbeit als Teil der Gemeinde zu verstehen, nicht losgelöst als unabhängige Satellitengemeinschaft. „Es ist wichtig, einen fürsorglichen Blick für jeden einzelnen Jugendlichen zu entwickeln, sie persönlich kennenzulernen, ihnen zuzuhören und tiefe Beziehungen aufzubauen.“ Dazu gehöre, ihnen ihren Gaben entsprechend verantwortungsvolle Aufgaben anzuvertrauen und Gestaltungsmöglichkeiten zu geben, sodass sie einen festen Platz in der Gemeinde finden. „Familien können außerhalb gemeindlicher Veranstaltungen durch gelebte Gastfreundschaft den Jugendlichen ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln und somit wichtiger Ankerpunkt und Faktor gegen Einsamkeit im Leben von Jugendlichen sein.“

Wege aus der Einsamkeit

Einsamkeitsphänomene gibt es aber auch bei Leitern von Kirchen und Gemeinden, berichtet Holthaus. „Pastoren und Pfarrer erleben oft eine berufsbedingte Einsamkeit, bedingt durch das Seelsorgegeheimnis und die isolierende Last, die sie tragen. Ein Pastor kann nicht offen über die Sorgen sprechen, die ihm anvertraut werden, was eine klassische Einsamkeitssituation schafft“, erklärt er. Als Hochschulrektor erlebte er selbst die Herausforderungen der Führungsverantwortung, die oft zu sozialer Isolation führe. „Entscheidungen, die niemandem gefallen, können Sie sozial isolieren“, sagt er und betont, dass sowohl in der Wirtschaft als auch in kirchlichen Kontexten die Gefahr der Einsamkeit an der Spitze besteht.

Tagsüber, wenn der Job Marlene forderte, hatte sie kaum Zeit, um über ihre Situation zu grübeln. Aber da waren die Abende allein in der Wohnung, die Wochenenden, die Ferien. „Viele bittere Tränen habe ich geweint. Ich hatte das Gefühl, vor Einsamkeit regelrecht zu ersticken“, sagt sie rückblickend. So bedrückend empfand sie ihre Situation. „Ich bin in meinem Schmerz im Gebet regelrecht zu Jesus geflohen, der am Kreuz selbst die tiefste Einsamkeit – von Gott, seinem Vater verlassen zu sein – erfahren hat. Das hat mir Hoffnung gegeben.“

Das ist jetzt drei Jahre her. Heute hat Marlene ihre Einsamkeit weitgehend überwunden. Gespräche und eine Gebetsseelsorge haben ihr dabei geholfen, ihre Sicherheit, ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität bei Gott neu zu finden. Sie hat auch ihre Scham abgelegt und kann über ihre Scheidung reden. Heute macht sie sich selbst nicht mehr unsichtbar, sondern sucht aktiv die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Einsam fühlt sie sich nur noch selten, auch wenn sie weiterhin allein lebt. Auch in der Gemeinde hatte Marlene ein neues Kapitel aufgeschlagen. „Ich habe durch eigene Erfahrung gelernt, dass Einsamkeit in der Gemeinde oft unerkannt bleibt. Wer es nicht selber am eigenen Leib erfahren hat, erkennt beim Gegenüber die Einsamkeit kaum“, sagt sie rückblickend.

Holthaus sieht Einsamkeit auch als ein hausgemachtes Problem der Gesellschaft, die zunehmend egozentrischer werde. Die Lösung sieht er in einer Rückkehr zu einem Gemeinschaftssinn, der alle umfasst: „Wir müssen vom Ich zum Wir kommen, um gesellschaftlich Einsamkeit zu überwinden“, sagt er. „Und Gemeinschaft war schon immer die Expertise von Kirche.“

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 4/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO. Die Ausgabe widmet sich im Schwerpunkt dem Thema Populismus. Bestellen Sie PRO hier kostenlos.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen