Viele Menschen haben sich während des Reformationsjubiläums intensiv mit Martin Luther befasst. Der Historiker Lucian Hölscher zieht am Ende der Reformationsdekade eine gemischte Bilanz. Die Kirche habe es geschafft, eine Verengung auf Deutschland, die deutsche Kultur und die Nation zu vermeiden, „der Protestantismus ist als eine weit darüber hinausgreifende Reformbewegung sichtbar geworden“, schreibt Hölscher in einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung.
Die Reformation stehe für kulturelle Vielfalt und Impulse in Wissenschaft und Bildung. Darüber hinaus beobachtet er, dass sich Katholiken und Protestanten angenähert haben. „Allerdings wird der institutionelle Selbsterhaltungstrieb und das tief eingefleischte Misstrauen zwischen den Konfessionen noch lange dafür sorgen, dass die erhoffte ‚Einheit in der Vielfalt‘ nicht zur echten Überwindung des Kirchenschismas führt“, glaubt Hölscher.
Auch das Dunkle nicht ausgespart
Das Jubiläum habe große theologische und historische Darstellungen produziert. Dabei seien auch die dunklen Seiten noch einmal grundsätzlich aufgerollt, relativiert und präzisiert worden. Das Bild der Reformation hat aus Hölschers Sicht von seiner Provinzialität und Deutschtümelei verloren. Zugleich müssten sich die Kirchen in Zukunft inmitten der säkularen Gesellschaft stellen.
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Kirchen habe dafür gesorgt, „dass das Interesse am Reformationsjubiläum trotz massiver staatlicher und medialer Unterstützung nur auf eine Minderheit begrenzt war“. Die Botschaft habe meistens nur die kirchlich interessierten Kreise erreicht. Kirche habe versäumt, auf die Relevanz Luthers für die moderne Gesellschaftsentwicklung hinzuweisen: „Alte protestantische Deutungsmuster wie die Charakterisierung der Reformation als Geburtsstunde der Freiheit, als treibende Kraft für die Entstehung des Kapitalismus oder gar der modernen Demokratie als Staatsform können heute nicht mehr überzeugen, zu groß waren die gegenläufigen Erfahrungen und die Impulse, die sich aus anderen Quellen speisten“, findet er.
Frohe Botschaft nicht als Produkt präsentieren
Die Kirchen wüssten nicht so recht, wie sie sich zur säkularen Gesellschaft verhalten sollen. Das Bild eines unbestellten Ackers sei genauso unpassend wie mit dem Produkt „Frohe Botschaft“ Kunden binden zu wollen. Die säkulare Gesellschaft sei vielschichtig. „Viele säkulare Menschen schätzen die ethischen Orientierungshilfen der Kirchen, allerdings nicht mehr pauschal wie früher, sondern punktuell zum jeweiligen Anlass.“
Deswegen müssten Kirche und Gesellschaft in einen Dialog treten. Davon könnten beide Seiten profitieren. Die säkulare Gesellschaft fordere die Kirchen heraus und treibt sie dazu an, ihre Traditionen neu zu überdenken. Auch die säkulare Gesellschaft halte für die Kirchen „frohe Botschaften“ bereit. Lucian Hölscher war bis 2014 Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.
Von: Johannes Weil