Wie NDR- und Spiegel-Journalisten über Evangelikale denken

Auch Evangelikale bereiten den Weg für den politischen Fundamentalismus in Deutschland. Das sagte der Spiegel-Journalist Peter Wensierski auf der Netzwerk-Recherche-Jahrestagung, bei der es ebenso um Gewaltvorwürfe gegen evangelikale Familien ging.
Von PRO
Das Thema der Gesprächsrunde auf der Netzwerk-Recherche-Tagung lautete „Unterschätzte Fundamentalisten – Recherchen im christlichen Milieu“ (Symbolbild)

„Wer wissen will, wie man Schwule heilen kann, ist hier richtig“, sagt der Redakteur des politischen Magazins Panorama, Robert Bongen, der das Journalistengespräch moderiert. Im kleinen Nebenhaus auf dem Gelände des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg-Lokstedt sind alle Sitzplätze besetzt. Einige der 35 Journalisten treffen teils verspätet aus vorangegangenen Veranstaltungen der Netzwerk-Recherche-Jahrestagung ein, die traditionell beim NDR stattfindet. Die Veranstaltung am 9. Juni trägt den Titel: „Unterschätzte Fundamentalisten – Recherchen im christlichen Milieu“.

Auf dem Podium sitzen der Spiegel-Journalist Peter Wensierski, der unter anderem das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ über Heimkinder in Deutschland geschrieben hat. Dazu geben die beiden NDR-Journalisten Christian Baars und Oda Lambrecht Auskunft, die zusammen das umstrittene Buch „Mission Gottesreich – Fundamentalistische Christen in Deutschland“ im Jahr 2009 veröffentlicht haben.

„Verbindung zwischen christlicher und politischer Rechte immer stärker“

Wensierski spricht am meisten. Er legt den anwesenden Journalisten, die auf der Suche nach neuen Recherchethemen sind, nahe, sich mit dem Themenkomplex Kirche zu beschäftigen: „Das ist so ein intransparenter Bereich und somit ideal für Journalisten, die recherchieren wollen.“ Seine Hauptthese lautet, dass christliche Fundamentalisten in Deutschland die Wegbereiter für den politischen Fundamentalismus seien: „Gerade im Wahljahr wird die Verbindung zwischen christlicher und politischer Rechte immer stärker.“

Der Spiegel-Journalist erklärt den Zuhörern, warum zum Beispiel eine kritische Berichterstattung über Evangelikale wichtig ist. „Die Evangelikalen stellen heute einen Großteil der Gottesdienstbesucher“, sagt er zu deren Einfluss in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er zitiert den Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz, Hartmut Steeb: „Alle Evangelikalen sollen bereit sein, politische Verantwortung zu übernehmen.“ Wensierski bezeichnet die Nachrichtenagentur Idea als „großen Namen“ und „Dachverband der Evangelikalen“, der in Gießen sitze. Richtig ist dies nicht: Dachverband der Evangelikalen ist die Deutsche Evangelische Allianz mit Sitz in Bad Blankenburg, die Evangelische Nachrichtenagentur idea sitzt in Wetzlar.

„Bewegung will wieder ein einfaches Leben“

Für Wensierski stehen die Evangelikalen vor allem für fünf Werte, die er problematisch findet: Gegen Abtreibung zu sein, für ein traditionelles Familienbild und gegen den Gender-Begriff einzustehen, „homophob“, „antiislamisch“ und „antifeministisch“ zu sein. Wensierski sieht eine große Schnittmenge zwischen Themen der Evangelikalen und einer Partei wie der AfD: „Kampfbegriffe wie die ,Frühsexualisierung‘ von Kindern gibt es auch bei der AfD.“

Es gebe einen Teil der deutschen Gesellschaft, der sich in die alte Zeit, also die 1950er-Jahre, zurücksehne: „Diese Bewegung will wieder ein einfaches Leben in einer immer komplizierter gewordenen Welt.“ Deswegen gelte es, die AfD oder die Pegida-Bewegung nicht nur auf ihre Islamophobie zu beschränken: „Im Themenkomplex, die gute alte Zeit zurück zu wollen, kommen die religiöse und die politische Rechte zusammen.“

„Für uns ist das fundamentalistisch“

Auf die Nachfrage, wie die drei Journalisten christlichen Fundamentalismus definieren, sagt Wensierski: „Wenn jemand heute die Bibel wörtlich nimmt, dann ist das unmöglich.“ Für ihn seien fromme Menschen aber nicht automatisch fundamentalistisch. Christian Baars, der seit dem Jahr 2014 im Ressort Investigation beim NDR arbeitet, ergänzt: „Die meisten Evangelikalen beziehen sich auf das Glaubensbekenntnis der Evangelischen Allianz. Für uns ist das fundamentalistisch.“

„Gewalt in evangelikalen Familien ist weit verbreitet“, sagt Baars. Er zitiert den Kriminologen Christian Pfeiffer: „Je streng gläubiger, umso mehr werden Kinder geschlagen.“ Die Erziehung bei Evangelikalen sei komplett auf Gehorsam ausgerichtet. Erziehungsratgeber, die er ausgewertet hat, zeigten, dass das systematisch passiere.

„Aber Radikale gibt es auch in den Landeskirchen“, sagt Baars. Auf Lehrplänen von christlich-fundamentalistischen Schulen, die staatliche Unterstützung erhalten, sei zum Beispiel Selbstbefriedigung eine Sünde. Der NDR-Journalist beklagt sich über eine fehlende Kontrollinstanz: „In der Kirche findet keine staatliche Kontrolle statt, die Sektenberatung ist von der Kirche finanziert.“ Dort gebe es selten ein kritisches Wort.

Beißhemmungen unter Journalisten

Die drei Podiumsteilnehmer sehen sich als Teil einer kleinen Gruppe in Deutschland. Nach Schätzungen von Wensierski gebe es nur fünf bis 15 Journalisten, die kritisch über die Kirche schreiben. „Man kriegt deutlich mehr Gegenwind als bei anderen Themen“, sagt Baars. Seine Co-Autorin bei „Mission Gottesreich“, Oda Lambrecht, die aktuell vor allem für Panorama arbeitet, sieht das ähnlich: „Kirche gilt in der Gesellschaft als etwas Gutes.“ Deswegen gebe es unter Journalisten gewisse Beißhemmungen. Man könne aber über sie berichten, ohne Theologe zu sein.

Die Podiumsteilnehmer schildern einige drastische Einzelfälle: Lambrecht berichtet von einem schwulen Kollegen, der einen Hamburger Arzt zu Recherchezwecken besuchte. Der streng gläubige Pflingstkirchler habe am Kollegen einen Dämonenaustreibung durchführen wollen. „Teufelsaustreibungen gibt es bei den Evangelikalen zuhauf“, ergänzt Baars.

Nach Zahlen zu Evangelikalen in Deutschland gefragt, sagt Lambrecht, dass es in den 1960er-Jahren einen großen Anstieg gab. Allerdings gebe es wenige seriöse Zahlen, weil auf diesem Gebiet wenig geforscht werde: „Der Einfluss der Evangelikalen wächst aber allein dadurch, dass Fundamentalisten deutlich mehr Kinder als der Durchschnitt bekommen.“ (pro)

Von: mm

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen