PRO: Inwiefern hat sich Martin Luther die neue Technik des Buchdrucks zunutze gemacht?
Thomas Kaufmann: Die Anfänge des Buchdrucks liegen für Luther ca. zwei Generationen zurück. Ich gehe davon aus, dass bereits die Basistexte für Luthers frühe Vorlesungen gedruckt wurden. Der spätere Druck seiner Psalmen-Vorlesungen ist weltberühmt und mit Luthers Handschrift versehen. Am Rand hat er Platz für eigene Kommentierungen gelassen. Er machte dank des Buchdrucks den Studenten die Texte zugänglich, die er in der Vorlesung nutzte.
Später gab er ein kleines Büchlein heraus, das den Namen „Theologia deutsch“ erhalten hat. Diesen mystischen Traktat des 15. Jahrhunderts von einem unbekannten Verfasser, versah er mit einer lobenden Vorrede. Das Erzeugnis wurde wohl sehr gut verkauft. Luther war einer der Menschen seiner Generation, der die Möglichkeiten dieses Mediums verinnerlicht hat.
Was haben die Druckereien damals alles publiziert?
Der Schwerpunkt lag zunächst auf den typisch akademischen Drucken, die an einer Universität gebraucht wurden: Vorlesungen oder Texte, auf deren Grundlage die Vorlesungen stattfanden. In einer mittelalterlichen Universität wurde ursprünglich ein Brief des Augustin, den man interpretierte, zunächst diktiert, vorgelesen und dann kommentiert. Mit dem Buchdruck setzt der Medienwandel an Universitäten ein.
Es geht nicht in erster Linie darum, einen Text zugänglich zu machen. Der Text ist zugänglich und wird interpretiert, verstanden und ausgelegt. Ein Beispiel für einen aktuellen, volkssprachlichen Text ist Luthers Sermon von „Ablass und Gnade“, wenige Wochen nach den 95 Thesen veröffentlicht. Der verbreitete sich sehr rasant. Das hat er vor allem an der Korrespondenz und dem Rücklauf der Briefe gemerkt.
Wie hat er auf diese Erkenntnis reagiert?
Im Kampf gegen die übermächtige Kirche hilft Luther die Flucht in die Öffentlichkeit. Er entwickelt Strategien, auf die ein Mensch vor der ersten Medienrevolution nicht gekommen wäre. Luther druckt auch Texte seiner Gegner nach und kommentiert sie. So bringt er den Disput in die Öffentlichkeit. Der Rezipient muss entscheiden, wer Recht hat und wer nicht. Das war bis dahin das Ergebnis einer geordneten Disputation, aber nicht die Aufgabe der Öffentlichkeit. Das bringt eine ungeheure Dynamik in die weitere Entwicklung.
Wurde die Entwicklung der Reformation an der Druckmaschine entschieden?
Eindeutig. Luthers Gegner hatten ein doppeltes Problem. Im Katholizismus betrieben die Kleriker die Theologie und belehrten die Laien. Deswegen war es selbstverständlich, dass theologische Debatten niemals in der Volkssprache geführt wurden. Laien sollten die Bibel nicht lesen. Luthers Gegner waren gehemmt, sich mit ihm in der Volkssprache auseinanderzusetzen. Zweitens entschieden Angebot und Nachfrage, welche Werke sich verbreiteten. Das Publikum wollte Luther und seine Texte lesen. Die Drucker haben sich darauf eingestellt, um wirtschaftlich zu überleben. In Straßburg hat das dazu geführt, dass von etwa eineinhalb Dutzend Druckereien nur noch eine katholische Publikationen gedruckt hat. Katholischen Autoren fanden nur schwer Druckereien, weil sie wirtschaftlich unattraktiv waren.
Vor allem der Reichstag 1521 hatte eine entscheidende Bedeutung.
Ja, dort wurden alle möglichen Ideen entwickelt, was gedruckt werden sollte. Zum Beispiel ein hoch eindrucksvolles Bekenntnis von Kaiser Karl V. Er legt darin dar, warum er die seit 1.000 Jahren geltende Lehre der römischen Kirche nicht wegen einer Einzelmeinung infrage stellen möchte. Der Text sollte in vielen Sprachen veröffentlicht werden, aber es passierte nicht. Luther dagegen hatte im Nachgang zu seinem Auftritt in Worms nichts Eiligeres zu tun, als seine Rede bei den Druckereien zu lancieren.
Die Drucker hatten also ein Gespür dafür, dass sie mit Luther Kasse machen konnte?
Ja. Es ist interessant, in welcher Breite das passierte. Die Druckereien haben sich sehr schnell auf die Nachfragen eingestellt. Neben Luther waren es auch Erasmus von Rotterdam und andere Autoren. Es gibt auch natürlich gewisse regionale Schwerpunkte. Zwingli publiziert immer nur in Zürich. Die Drucker hatten die reformatorische Entwicklung bei ihrer Spezialisierung im Blick.
Druckverbot für Neues Testament
Wann hat die Obrigkeit die Chance des Buchdrucks als Machtinstrument erkannt?
Einzelne Bistümer und Territorien haben die Technik benutzt, um rechtliche Regelungen zu kommunizieren. Es gibt bereits im 15. Jahrhundert Versuche, größere Menschengruppen für eine politische Agenda zu mobilisieren. Ein Schub erhält die Buchproduktion mit der „Türkengefahr“, als die Osmanen 1453 Konstantinopel erobern. Das wirkt sich bis auf den mitteleuropäischen Raum aus. Dort wurden verstärkt Türken-Predigten und andere Literatur gedruckt, um zum Kreuzzug gegen die Türken zu mobilisieren. Einzelne Bischöfe schafften sich sogar Druckereien an, aber die hatten oft nicht lange Bestand.
Wurde auch zensiert?
Im Zuge des fünften Lateran-Konzils wurde beschlossen, alle Druckerzeugnisse durch kirchliche Behörden genehmigen zu lassen. Alle diese Bestrebungen sind aber an der fehlenden Exekutivgewalt der Kirchen gescheitert. Am besten sind solche Maßnahmen Luthers Gegner Georg von Sachsen gelungen. Er verbot den Druck des Neuen Testaments und baute in Dresden eine eigene Druckerei für anti-reformatorisches Schrifttum auf. Versuche der Zensur von Seiten der Obrigkeit gab es ebenfalls, sie spielten aber keine nennenswerte Rolle. Der Kaiser etwa hat gar nicht über die entsprechenden Druckkapazitäten verfügt. Die politischen Akteure haben erst allmählich gelernt, welches Potenzial in diesem Medium steckt.
Was bedeutete der Buchdruck für den Bildungsgrad eines christlichen Laien?
Die Reformation gab vor allem einen positiven Impuls für die städtischen Laien. Bei ihnen herrschte eine Art Hunger auf die Bibel. Daran konnten die Reformatoren sehr gezielt anknüpfen. Zunächst war das ein Elite-Phänomen, wobei man den Begriff nicht zu eng fassen darf: Wer um 1500 einen Handwerkerbetrieb führte, konnte kein Analphabet sein. Dafür waren die ökonomischen Herausforderungen und Geschäftsbeziehungen zu komplex.
Wie sah es in den Dörfern aus?
In den Städten wuchs die Zahl derjenigen, die lesen und schreiben konnten. Das ging auch in den ländlichen Bereich über. Im Elsaß etwa existierten sehr durchlässige Beziehungen zwischen Stadt und Land. Der Bauernstand ist aber sozial bunt und regional diversifiziert, so dass ein einheitliches Bild schwierig ist.
Das akademische Ritual ist durch den Buchdruck zu einem öffentlichen Ereignis geworden. War das ein Gewinn?
Für Fragen der Lehre waren dadurch nicht mehr ausschließlich akademische Theologen zuständig. Im Kern war es ein demokratisierendes Element. Die Reformation hat nicht die Demokratie hervorgebracht, aber sie hat Mentalitäten und Haltungen befördert. Wenn Laien jetzt die Bibel auslegten, musste sinnvoll dagegen argumentiert werden.
Die Verbreitung mancher Thesen führte auch zu Zwist unter den Reformatoren?
Am intensivsten war der Konflikt zwischen Martin Luther und Andreas Karlstadt. Luther hatte Karlstadt aufgefordert, offen gegen ihn zu publizieren. Er war sich sicher, dass er publizistisch nicht zu besiegen war. Dadurch hat die von Luther abweichende Meinung eine enorme Eigendynamik entfaltet, weil sich viele verschiedene Akteure vor allem aus dem oberdeutschen Raum äußerten. Insofern hat der Diskurs dazu geführt, dass sich unterschiedliche protestantische Konfessionen bildeten. Dabei wurden auch Mauern errichtet, die sehr folgenreich waren und geblieben sind.
Im Buch sprechen sie auch von Hate Speech und Fake News. Sind diese gar keine „Erfindung“ der Neuzeit?
Viele Dinge, die wir heute als verstörend und neu wahrnehmen, kann man historisch einbetten und Analogien im 16. Jahrhundert beobachten. Prinzipiell ist es ja nichts Neues, Menschen zu diffamieren und das massenmedial zur Wirkung zu bringen. Der katholische Nuntius Aleander, ein Gegner Luthers, wurde von bestimmten Feinden beargwöhnt. Sie warfen ihm vor, dass er konvertierter Jude sei. Das wurde zum Anlass von Diffamierungen und Attacken in Flugschriften. Selbst seine Richtigstellungen an prominenter Stelle nutzten nichts. Das Urteil über ihn war in der Welt. Das ist bis heute ein Problem, auch wenn es bessere Möglichkeiten gibt, darauf zu reagieren, als damals.
Sie sprechen ja von der ersten und der zweiten Medienrevolution – der Erfindung des Buchdrucks und des Internets. Was verbindet sie?
Beide Revolutionen haben die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten erweitert: damals durch das Buch, heute mit Hilfe des Internets. Das hätte es mit der Manuskript-Kultur niemals gegeben. Gedanken, die einmal „im Medium“ sind, bleiben in der Welt. Der Buchdruck sorgte so für eine ungeheure Dynamik in der latein-europäischen Zivilisation.
Wo liegen denn die Unterschiede der beiden Revolutionen?
Das Bild hat eine gigantische Bedeutung im Internet-Zeitalter. Wahrscheinlich kann man von einem Sieg des Bildes über die Schrift sprechen. Auch Analphabeten können an der heutigen Medienrevolution teilhaben. Das war im 16. Jahrhundert nur eingeschränkt möglich. Noch gravierender ist die vollständige globale Entgrenzung des Kommunikationsraums. Durch Übersetzungsprogramme können wir mittlerweile auch mühelos an den Inhalten anderer Sprachen teilhaben.
Gibt es Erkenntnisse Ihres Buches für unseren Medienkonsum heute?
Es gibt keinen Grund zu resignieren oder sich kulturpessimistisch vom Internet abzuwenden. Ich wünsche mir allerdings, dass wir Kontrollmechanismen sowie rechtliche und moralische Standards etablieren. Es braucht Schutzräume, um den entgrenzten wirtschaftlichen Interessen Grenzen zu setzen. Außerdem muss es Strategien geben, die es ermöglichen, dass das Internet vergisst. Menschen dürfen nicht für immer unter völlig marginalen oder sogar falschen Informationen, die im Internet über sie verbreitet werden, leiden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Eine Antwort
Welche Gefahr von der freien Druck Presse für undemokratische Regierungssysteme wie z. B. Russland, China , Saudi Arabien oder Nordkorea ausgeht sieht man bis heute daran , daß in diesen Ländern unliebsame „Blätter“ einfach verboten und unliebsame Reporter schnell verhaftet werden. Also stehen manche autokrate Regierungen immer noch mit ihrem Beschlagnahme Fuß im 15. Jahrhundert !