Wie entsteht religiös motivierter Extremismus und wie kann man dem begegnen? Mit dieser Frage setzte sich Martin Fritz von der „Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen“ (EZW) am Dienstagabend bei einer Online-Veranstaltung der „Evangelischen Akademie zu Berlin“ auseinander. Der Theologe beschäftigt sich in seiner Forschung besonders mit christlichen Strömungen des Fundamentalismus. Vieles könne aber auch auf die anderen abrahamitischen Religionen übertragen werden, weil sie ebenfalls monotheistisch seien, sagte er.
Als extremes Beispiel für christlichen Fundamentalismus führte er die „Baptistenkirche Zuverlässiges Wort“ an. Diese habe mit „Baptisten“ im herkömmlichen Sinne nichts zu tun und gehöre nicht zum „Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden“ (BEFG), sagte Fritz. Doch der Begriff „Baptistenkirche“ sei nicht geschützt. Die „Baptistenkirche Zuverlässiges Wort“ wird vom Verfassungsschutz beobachtet, PRO berichtete bereits.
Fritz spielte den Ausschnitt einer Online-Predigt ab, in dem Prediger Anselm Urban behauptete, es gebe Menschen, die nicht von Gott geliebt würden wegen ihrer Sünden und Menschen, die „wandelnder Abfall“ seien. Homosexualität würde Gott mit der Todesstrafe ahnden und „Homos“ seien „Müll“. Urban lebt mittlerweile in den USA, weil hierzulande ein Strafbefehl wegen Volksverhetzung gegen ihn vorliegt.
Verleugnung der Vernunft
Dies sei das „krasseste Beispiel“ für christlichen Fundamentalismus, das er in Deutschland habe finden können, sagte Fritz. Er erklärte, wie es dazu kommen kann, dass die Worte aus der Bibel „eins zu eins“ als gültig betrachtet würden. Es gelte die Verbalinspiration: Die Bibel sei dem Schreiber Wort für Wort vom Heiligen Geist eingegeben worden. Man gehe von einer Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel aus, auch in Sachfragen. Dass das Buch über Jahrhunderte von hunderten verschiedenen Autoren geschrieben worden sei, blende man aus.
Charakteristisch für christlichen Fundamentalismus sei, dass man den Glauben gegen jegliche Infragestellungen absichern wolle. Die Grundprinzipien der modernen Weltanschauungen würden abgelehnt. Man verleugne die Vernunft und isoliere sich dadurch auch gegenüber dem zeitgenössischen Wahrheitsbewusstsein.
Im Besitz der „absoluten Wahrheit“
Dadurch entstehe eine gewisse „Absonderlichkeit“. Christliche Fundamentalisten zögen sich aus „der Welt“ zurück, weil dort ihrer Ansicht nach alles infrage gestellt werde, was sie glaubten. Das verunsichere sie. Man ziehe sich deshalb in die eigenen Kreise zurück, wo man sich sicher fühle unter Menschen, die „Gott wirklich die Treue halten“. Außerdem fühlten sich solche Gläubigen im „Besitz der göttlichen Wahrheit“ im Gegensatz zu allen anderen Menschen. Durch Glaubensgrundsätze wie: „Wenn du glauben willst, musst du dieses oder jenes anerkennen“ wehre man sich gegen Gedanken der kritischen Vernunft. Oft führe das zu einer strengen Bindung an normative Inhalte aus der Bibel, wie die Einhaltung diverser damaliger Vorschriften im alltäglichen Leben.
Eine Folge sei, dass man dies dann auch gegenüber „der Welt“ rigoros durchsetzen wolle. Denn man sei sich ja sicher, dass man die „absolute Wahrheit“ besitze. Es herrsche absolute Kompromisslosigkeit. Das extremste Beispiel sei die Umgestaltung der Gesellschaft zu einer Theokratie, wie man es im Iran erlebe.
Dadurch, dass man dauerhaft im Zwiespalt mit dem stehe, was die „moderne Welt“ bietet und lehrt, fühlten Fundamentalisten sich stark verunsichert. Es reiche vom Führen eines Doppellebens bis hin zu Fanatismus und Gewalt, weil Betroffene unter einer psychischen Dauerspannung stünden.
Begegnung nur auf theologischer Ebene
Der Theologe machte klar, dass nicht alle konservativen oder „entschiedenen“ Christen Fundamentalisten seien. Die wenigsten Bibeltreuen oder Evangelikalen in Deutschland fielen in das Muster, was er schildere.
Fritz erklärte, es helfe nicht, religiöse Fundamentalisten als „Spinner“ abzutun. Man könne ihnen eigentlich nur mit theologischer Argumentation begegnen. Denn ihre Lehren stünden in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu dem, was zum Beispiel den christlichen Glauben ausmache. Die eigene Vernunft zu verleugnen stehe zum Beispiel im starken Gegensatz zu einem Gott, der für Wahrheit und Wahrhaftigkeit steht. Wenn man zudem meine, über Gott und seine Wahrheit verfügen zu können, missachte man die Souveränität, Majestät und Transzendenz Gottes, sagte Fritz.
Christliche Fundamentalisten bei Social Media
Und schließlich lebe man auch eine Leistungsreligion aus: Denn es gehe immer um das Einhalten und Erfüllen von bestimmter Vorgaben. Diese Art der Selbsterlösung ist „Protestanten ein Gräuel“, sagte der Theologe. Schon Luther habe diese Werksgerechtigkeit verurteilt.
„Wenn man die Bibel Wort für Wort so gültig nimmt, hat man einen Haufen Probleme“, fasste Fritz zusammen. Das digitale Zeitalter spiele christlichen Fundamentalisten in mancher Hinsicht in die Hände. Es gebe einige Kanäle auf Youtube und auch bei Social Media, die dem christlichen Fundamentalismus zumindest naheständen. Fritz nannte zum Beispiel den Instagram-Account „Liebe zur Bibel“. Ob diese Kanäle aber wirklich dazu führten, einen nennenswert negativen Einfluss auf die Gesellschaft zu üben, sei noch nicht klar.
Sorge bereite ihm jedoch, dass die großen Kirchen immer mehr an Bedeutung und Mitgliedern verlieren. Denn dort pflege man die Theologie aktiv, achte auf die Inhalte der Ausbildung und der Verkündigung. Sie seien eigentlich ein guter Ort, um christlichem Fundamentalismus entgegenzuwirken. Doch der Pfarrermangel werde immer mehr zum Problem. „Das Christentum wird nicht untergehen, aber ein liberales Christentum, wie wir es hier kennen… wer weiß“, sagte Fritz.
Schließlich nannte er auch den Religionsunterricht an Schulen als wichtiges Instrument, um jungen Menschen grundlegende Inhalte ihrer Religion zu vermitteln und sie aufzuklären. Das sei eine der wichtigsten Methoden zur Vorbeugung gegen religiösen Extremismus.