Die Autoren verweisen darauf, dass Kritiker beim Aufkommen des
Fernsehers vor fast 60 Jahren "vor einem elektronischen ‚Zyklopen‘ im
privaten Heim" warnten, und fragen, ob es an der Zeit sei, dem "linearen
Jahrhundertmedium" endgültig Lebewohl zu sagen; vor allem, weil digitale
Medienangebote der klassischen Fernsehnutzung den Rang ablaufen.
"Das Fernsehen ist ausgerechnet dort, wo im Internet-Zeitalter seine Stärken liegen könnten, nachgerade zur Verschlusssache geworden", bemängeln die Autoren. Viele, durch Steuergelder finanzierte Programmelemente, seien in den Online-Mediatheken nicht verfügbar, wodurch es selbst bei treuesten Zuschauern zu empfindlichen Bedeutungsverlusten komme.
Kein Mitmach-Medium
Kramp und Weichert bedauern die Passivität und die lieblosen "Social-Media-Anwandlungen", die sich viele Fernsehsender leisteten. Es sei dem Medium noch längst nicht gelungen, "in einen echten Dialog mit dem Zuschauer zu treten". Zahlreiche Experimente, mit dem rasanten Medienwandel Schritt zu halten, seien gescheitert und zeigten, dass "das Fernsehen in der Internet-Gesellschaft nur ein Nebenschauplatz bleibt, weil ihm schlicht und ergreifend die technischen Voraussetzungen für ein Mitmach-Medium" fehlten.
Der Auftrag, mit dem Angebot einen Querschnitt der Bevölkerung zu erreichen, könne nur dann gelingen, wenn Fernsehsendungen auch in den Mediatheken existent sind. "Erst wenige Nischensender haben offenkundig ein Rezept dafür gefunden, wie sie mit der neuen Umtriebigkeit, der Kritiklust und dem Diskussionspotenzial der Nutzer umgehen sollen und wollen", betonen die Autoren und kritisieren vorhandene Bezahl-Barrieren.
Spektakuläre Bilder und Gesprächsstoff
Seine Stärke könne das Fernsehen dort ausspielen, wo es spektakuläre Bilder transportiere, Gesprächsstoff liefere und seinen Zuschauern ein verbindendes Erlebnis schenke. Als "Verzweiflungsstrategie" sehen Kramp und Weichert die geplante kommerzielle Online-Videoplattform, auf der angestaubte Sendungen gewinnträchtig wiederverwertet werden sollen: ARD und ZDF setzten "eher auf ihr bewährtes Vertriebsnetz als auf die Leitidee der Netzkultur, die Konsum verabscheut, dafür Transparenz, Beteiligung und das dialogische Moment lebt". Es müsse gelingen, "die Kommunikationsstruktur des Internet zu umarmen und den User als Partner bei der Konstruktion der Fernseh-Wirklichkeit ernst zu nehmen".
Ein möglicher Ansatzpunkt ist für die beiden Wissenschaftler eine "Anlaufstelle für fernsehkritisches Feedback", an der sich die Zuschauer beteiligen und ihre Kritik, etwa gegen "dreiste Millionengagen für Moderatoren oder die moralischen Grenzüberschreitungen in den Casting-Formaten" loswerden könnten. Eine entsprechende Lobby gibt es aus Sicht der Autoren für die Zuschauer bisher noch nicht.
Am Ende des Artikels stehen die Fragen der Autoren: "Muss sich das Fernsehen vielleicht entscheiden, ob es lieber passives Lagerfeuer der Nation oder Portal der Internet-Community sein will? Und wer oder was hält uns letztlich davon ab, uns auf ewig ins Netz zu verabschieden, wo wir täglich den Dialog mit Gleichgesinnten leben können. Wozu also Fernsehen?"
Die "Welt" plant, sich dem Thema im Rahmen einer Serie in den kommenden Wochen zu widmen und will TV-Regisseure, Produzenten und Moderatoren die Zukunft des Fernsehens skizzieren lassen. (pro)