„Die ganze Welt schaute dabei zu, wie das Wort ‚evangelikal‘ zum Synonym für Heuchelei und Unaufrichtigkeit wurde“, schreibt Billy Grahams Enkelin Jerushah Duford in einem Gastbeitrag für USA Today, den auch wir abgedruckt haben. Damit meinte sie vor allem die US-Evangelikalen, die zu den moralischen Ausfällen von Trump schweigen – und ihn trotzdem voll unterstützen. Duford hat Recht. Wenn Evangelikale derzeit internationale Schlagzeilen machen, dann ausschließlich negative. Nur ein kurzer Blick nach Nord- und Südamerika in der vergangenen Woche:
Jerry Falwell: Der Präsident der riesigen Liberty University tritt zurück. Öffentlich hatte er eine konservative Sexualmoral vertreten, auf dem Campus galt Alkoholverbot. Ganz anders privat: Ein Pool-Junge gab an, seit Jahren eine sexuelle Beziehungen zu Falwells Ehefrau zu führen, und „Jerry genoss es, aus der Ecke des Raums zuzusehen“. Laut Medienberichten besaß Falwell ein 4,6 Millionen Dollar teures LGBT-freundliches Hostel mit Schnapsladen. Seine angebliche Abfindung von der Universität: 10,5 Millionen Dollar.
Kyle Rittenhouse: Ein 17-Jähriger zieht mit einem Gewehr durch die Straßen Kenoshas, um nach eigenen Angaben der Polizei zu helfen. Dabei erschießt er mutmaßlich zwei Menschen, die gegen rassistische Polizeigewalt demonstrierten, und verletzt einen Dritten. Sein Anwalt spricht von Notwehr, die Staatsanwaltschaft von Mord. Trotzdem sammelten Christen Geld für ihn. Nach kurzer Zeit kamen mehr als 300.000 Dollar zusammen.
Everaldo Pereira: Der evangelikale Pastor, der Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro im Jordan getauft hatte, wird von der Polizei verhaftet. Laut Deutscher Presseagentur (dpa) wird ihm vorgeworfen, „Teil eines ausgeklügelten Korruptionsnetzwerkes im Gesundheitssystem“ zu sein.
Flordelis dos Santos: Sie hat mehr als 50 leibliche und adoptierte Kinder – und einige davon soll sie zum Mord an ihrem Ehemann angestiftet haben. Der Mann, wie sie Pastor, war vergangenes Jahr mit 30 Schüssen getötet worden. Sechs Kinder von dos Santos sitzen in Verbindung mit dem Fall im Gefängnis. Ein Ermittler gab an, sie habe den Mord als moralisch weniger verwerflich als eine Scheidung gesehen. Sie selbst bestreitet dies. Kürzlich hatte sie einen Arzt als „Mörder“ bezeichnet, der eine Abtreibung bei einer Zehnjährigen vorgenommen hatte, die von ihrem Onkel vergewaltigt worden war.
Natürlich sind diese Beispiele nicht repräsentativ für die evangelikale Basis, die zumindest ernsthaft versucht, in aller Demut Jesus Christus nachzufolgen. Umso heftiger muss es jeden Evangelikalen erschüttern, wenn Kirchenführer sonntags Nächstenliebe predigen und montags das Gegenteil davon tun, wenn sie in doppelzüngigen, bigotten Moralismus verfallen – und in Extremfällen nicht einmal vor Verbrechen zurückschrecken. Jerushah Duford spricht von einem „Unbehagen“ („tug in the spirit“), das Evangelikale dazu bringen sollte, ihre Stimme gegen das Unrecht zu erheben – auch und gerade, wenn es um angebliche Glaubensgeschwister geht. Mögen ihrem Aufruf viele folgen.