Wenn ein Atheist ins Grübeln kommt

Der britische Schriftsteller Julian Barnes ist eigentlich Agnostiker. Früher war er sogar Atheist. Doch seit jeher beschäftigt ihn die Angst vor dem Tod, und mit dem Alter wachsen Zweifel am Zweifel. Das Magazin "Der Spiegel" druckte einen Auszug aus seinem neuen Buch ab, dessen Titel Gelassenheit suggeriert, wo immer noch bange Ungewissheit herrscht: "Nichts, was man fürchten müsste".
Von PRO

Als Jugendlicher habe er sich eingeredet, es könne gar keinen Gott geben. Seine Mutter, hartgesottene Atheistin, habe ihm später angedeutet, dass nur der Atheismus "ehrlich zur knallharten Realität", und der Agnostizismus dagegen eine "liberale Haltung" sei. Als ihr Sohn in einem Radio-Interview zu verstehen gab, dass er sich als Agnostiker verstehe und kein klares Ja oder Nein auf die Frage nach Gottes Existenz geben könne, habe sie gesagt: "Was soll eigentlich dieses ganze Tamtam um den Tod?" Für Barnes ist die Antwort einfach: "Ich erklärte ihr, mir widerstrebe eben der Gedanke daran."

In seinem "Buch Nichts, was man fürchten müsste", das am Donnerstag im Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheint, betrachtet ein Agnostiker seine Sehnsucht nach einem göttlichen Wesen und seine Angst vor dem Tod. "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn", schreibt Barnes. Und weiter: "Gott zu vermissen ist für mich etwa so, wie Engländer zu sein – ein Gefühl, das sich vor allem bei Angriffen einstellt. Wenn mein Land beschimpft wird, regt sich ein  schlafender, um nicht zu sagen narkoleptischer Patriotismus in mir. Und wenn es um Gott geht, fühle ich mich von atheistischem Absolutismus eher provoziert als etwa von der oft schalen, zögerlichen Zuversicht der Kirche von England."

Glücklicher aber zweifelnder Atheist

Früher sei er "glücklicher Atheist" gewesen. Das Adjektiv bezog er allerdings nur auf dieses Substantiv, wie er schreibt. Wirklich glücklich sei er ansonsten nicht gewesen. "Und wenn ich glücklich war, von Old Nobodaddy (Gott) befreit zu sein, stimmten mich die Konsequenzen daraus nicht fröhlich. Kein Gott, kein Himmel, kein Leben nach dem Tode; damit bekam der Tod einen ganz anderen Stellenwert." Der Tod und die Frage, ob etwas danach kommt, nagte weiter an ihm.

"Ich hatte keinen Glauben, den ich verlieren konnte, nur einen Widerstand, der sich heroischer anfühlte, als er tatsächlich war. (…) Ich wurde nie getauft, nie in die Sonntagsschule geschickt. Ich habe mein Leben lang nie einen normalen Gottesdienst besucht. Ich gehe zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Ich bin ständig in Kirchen, aber aus architektonischen Gründen."

Ihn beschäftigte die Wette des Philosophen Blaise Pascal: "Wenn man an Gott glaubt, und es stellt sich heraus, dass es Gott gibt, hat man gewonnen. Wenn man an Gott glaubt, und es stellt sich heraus, dass es keinen Gott gibt, hat man verloren, aber längst nicht so hoch, als wenn man nicht an Gott geglaubt hätte und nach dem Tod feststellen müsste, dass es ihn doch gibt." Doch er mutmaßt: "Womöglich liebt Gott ja den ehrlichen Zweifler mehr als den berechnenden Schleimer."

Seine Entwicklung vom Atheisten zum Agnostiker führte so weit, dass er irgendwann sogar die Gläubigen verteidigte. Als bei einem gemeinsamen Essen mit Nachbarn ein Mann ausrief: "Aber warum sollte Gott das für seinen Sohn tun und für uns andere nicht?", schrie Barnes unwillkürlich zurück: "Weil er Gott ist, Herrgott noch mal!" Auf den Einwand, dass Jesus vielleicht gar nicht am Kreuz gestorben sei, weil eine Auferstehung von den Toten unmöglich sei, antwortete er: "Aber das ist es doch gerade – dass es nicht geschehen sein kann. Der Punkt ist, für Christen ist es so geschehen."
 
"Neodarwinisten nicht klüger als Betbrüder"

Der Schriftsteller stellt fest: "Solche wissenschaftlichen Einwände und ‚Erklärungen‘ – Jesus ist nicht ‚wirklich‘ über das Wasser gewandelt, sondern über eine dünne Eisdecke, die unter bestimmten meteorologischen Bedingungen … hätten mich in meiner Jugend überzeugt. Jetzt erscheinen sie mir irrelevant." Glauben heiße eben, "genau das für wahr zu halten, was allen Regeln nach nicht geschehen sein kann." Dies betreffe eben auch biblische Geschichten wie von der Jungfrauengeburt, von der Auferstehung oder ein Leben nach dem Tode. "Nach allem, was wir wissen und verstehen, kann es nicht geschehen sein. Aber es ist geschehen. Oder es wird geschehen."

Allerdings sei die Parole wie "Glaube du! Es schadet nicht" für ihn eine "verwässerte Fassung, das matte Gemurmel eines Menschen mit metaphysischen Kopfschmerzen". "Wenn man selbst ein Gott wäre, fände man so eine lauwarme Rückenstärkung wohl nicht sonderlich eindrucksvoll." Barnes erklärt: "Wenn ich mich mit zwanzig als Atheist bezeichnete und mit fünfzig und sechzig als Agnostiker, heißt das nicht, dass ich in der Zwischenzeit mehr Wissen erlangt hätte – nur ein größeres Bewusstsein meiner Unwissenheit. Wie können wir sicher sein, dass wir genug wissen, um zu wissen? Als neodarwinistische Materialisten des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind wir der Überzeugung, Bedeutung und Mechanismen des Lebens seien erst seit dem Jahr 1859 völlig geklärt, und halten uns kategorisch für klüger als die leichtgläubigen Betschwestern und Betbrüder, die noch vor kurzem an eine göttliche Vorsehung, eine heile Welt, die Auferstehung und ein Jüngstes Gericht glaubten. Heute sind wir zwar besser informiert, aber deshalb nicht höher entwickelt und ganz bestimmt nicht intelligenter als sie. Was macht uns so sicher, dass unser Wissen endgültig ist?" (pro)

Der 64-jährige Julian Barnes lebt als Schriftsteller in London. Sein Roman "Flauberts Papagei" machte ihn 1984 international bekannt. Sein neues Buch "Nichts, was man fürchten müsste" erscheint am 18. März im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Der "Spiegel" druckte einen Auszug in seiner aktuellen Ausgabe (Nr. 11/2010) ab.

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