pro: Der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt ist 1970 bei seinem Besuch in Polen auf die Knie gefallen – vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos. Das verursachte damals heftige Diskussionen. Wie empfinden Sie diesen „Kniefall von Warschau“?
Nicole Grochowina: Ich kann diese Geste gut verstehen. Vor dem Mahnmal hat ihn, wie er deutlich gemacht hat, die Schwere der Schuld schier umgehauen. Ich glaube, dass das tatsächlich ungeplant geschehen ist. Welchen Ausdruck hätte die Demut sonst finden können angesichts dessen, was ihm dort entgegengekommen ist?
Brandts Kniefall erregte damals heftige Aufmerksamkeit. Warum?
Weil wir da bei der Frage der deutschen Schuld, möglicherweise auch der Kollektivschuld sind. Deshalb war Brandts Kniefall hochbrisant. 1970 – das war lange, bevor wir zugegeben haben, dass die Wehrmacht und die Polizei doch unsauber waren; lange vor der Zeit, in der die Forschung gezeigt hat, was dort im Ghetto an Verbrechen von „den Deutschen“ begangen wurde. Und lange, bevor die breite Bevölkerung in signifikanten Teilen auch als Mittäter, wie Daniel Goldhagen es gesagt hat, als „willige Vollstrecker“ gesehen worden ist.
Die Erinnerungskultur tat sich damals extrem schwer damit, die Schuldfrage als eine offene zu sehen – und sie stand vor der Versuchung, das Böse des Dritten Reiches in dem Sinne zu banalisieren, dass Einzelnen eine besondere Bösartigkeit zugeschrieben wurde, um auf diese Weise alle anderen zu schützen.
Dass sich damals Leute fragten, wie Brandt nur so ein Schuldeingeständnis zeigen konnte, das verstehe ich schon – obwohl ich es nicht gutheiße. Umso größer finde ich seine Geste. Die Tatsache, dass wir heute immer noch darüber sprechen, zeigt ja auch, welchen Zäsur-Charakter sie insgesamt hat. Willy Brandt hat versucht, etwas zum Ausdruck zu bringen, wofür er keine Worte hatte. Das Nobelpreiskomitee hat diese Tragweite erkannt und ihm im Jahr darauf den Friedensnobelpreis verliehen. Beides finde ich als Historikerin und als Schwester extrem großartig.
Was bedeutet die Geste des Kniens für Sie persönlich?
Sehr viel, und das hat auch mit Demut zu tun. Im Gebet knie ich. Für mich ist es auch ein Ausdruck meiner eigenen Geschöpflichkeit – und damit ist es zugleich eine Geste der Anerkennung der Größe Gottes und ein Wahrnehmen dessen, was ich ihm gegenüber bin. Insofern ist das für mich ein körperlicher Ausdruck meines Verhältnisses zu Gott: Er als der Gebende, der Höhere – und ich als Empfangende. Für mich ist es wichtig, dies auch körperlich zu zeigen. Denn Gebetspraxis oder die „praxis pietatis“ umfasst Körper und Geist.
Katholiken knien im Gebet, Protestanten eher nicht. Fällt diese Geste Protestanten schwerer als Katholiken?
Im Protestantismus appellieren wir sehr an die Verantwortlichkeit des Einzelnen und damit auch an seine Stärke und daran, dass wir in einem direkten Verhältnis zu Gott stehen. Wir stellen das Individuum ja aus gutem Grund sehr in den Mittelpunkt. Dann ist es aber nur noch ein kleiner Schritt, zu sagen: „Ok, dann bewahre ich meine Individualität auch darin, dass ich mich nicht beuge.“
Martin Luther stellte es den Gläubigen ja auch frei: „Wenn du betest, stell oder knie dich hin …“
Martin Luther selbst ging davon aus, dass sein ganzes Leben in Anfechtung steht und er daher Hilfe braucht. Sein Beichtvater Staupitz riet ihm deshalb, immer auf den Gekreuzigten zu schauen und sich zu beugen. Das hat Luther als heilsam inmitten der Anfechtungen erfahren. Das heißt: Er erlebte eine andere Art der Verwurzelung als die, die wir heute haben. Er hatte außerdem einen anderen Begriff davon, was der Mensch eigentlich ist. Das hat sich ja über die Jahrhunderte auch gewandelt.
Einigen Menschen wird mulmig zumute, wenn sie auf die Knie gehen sollen. Woran liegt das?
Ich vermute, dass das als eine Form der Unterwerfung und der Selbstaufgabe verstanden wird. Insofern kann ich es gut verstehen, wenn Menschen sagen: „Das mache ich auf keinen Fall!“ Ich würde dann aber fragen: Warum ist diese Form von Selbsthingabe dem oder der Betreffenden nicht möglich? Für mich selbst ist es ein redlicher Ausdruck, weil ich an diesem Punkt nicht mit meiner Kleinheit ringe, sondern froh um die Angewiesenheit bin, die das Knien zum Ausdruck bringt. Damit verstehe ich es als Hingabe, als etwas Gutes und Lebensdienliches, nicht als Unterwerfung. Gleichzeitig ist es ein Zeichen für mich, dass ich mich danach ausstrecke, Gottes Willen zu tun. Zudem trägt die Zeit, in der wir leben, sicher das eine oder andere dazu bei, dass Angewiesenheit für viele Menschen schwer auszuhalten ist. Gerade für Frauen gilt das vermutlich – viele Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch haben wir darum gekämpft, solche Angewiesenheitsverhältnisse zu vermeiden! Und nun soll das plötzlich etwas Angemessenes sein – das ist einigen schwer zu vermitteln.
Letztlich jedoch geht es um die Frage des Gottesbildes: Wenn ich davon ausgehe, dass es einen knechtenden Gott gibt, der nur darauf wartet, dass ich mich klein mache, um dann von oben noch mal ordentlich draufzuhauen – dann ist das sicherlich etwas anderes, als wenn ich davon ausgehe: Gott ist ein Gott des Lebens und es kann mir nichts Besseres passieren, als Gottes Willen zu tun, seine Größe und sein Ganz-anders-Sein anzuerkennen und mich in die Ordnung einzufügen, die er geschaffen hat.
Willy Brandt hat sich ausdrücklich als nicht religiösen Menschen beschrieben. Wirkt die Geste des Kniefalls also unabhängig vom Glauben?
Der Kniefall wirkt meines Erachtens immer, wenn er eine redliche, authentische und echte Geste ist, die einem Herzensgefühl folgt. Genau dann bringt er die Ernsthaftigkeit und letztlich auch die Demut des Knieenden zum Ausdruck, die jenseits aller Worte ist. Insofern ist es fatal, wenn diese kostbare Geste funktionalisiert und damit missbraucht wird. Ich denke aber, dass wir Menschen ein Gespür für die Ernsthaftigkeit dieser Geste haben – und dann beeindruckt und begleitet sie uns; gerade so wie der Kniefall von Willy Brandt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Uwe Birnstein