„Ich promoviere in Geschichte.“
„Welche Epoche? Mittelalter?“
„Nein, 2020.“
„Welche Woche?“
Tatsächlich hat es wohl kaum ein Jahr in unserer jüngeren Geschichte gegeben, in dem sich historische Ereignisse derart turbulent überschlagen haben. Nachrichtenhören ist zum Abenteuerspielplatz geworden.
Die Welt verändert sich in dramatischem Tempo. Neulich fuhr ich durch ein abgestorbenes Waldstück und hörte im Radio die neuesten Coronadaten. Ich überholte einen Bus mit lauter Maskierten und musste denken: Wäre ich eben aus einem mehrmonatigen Koma erwacht – ich würde denken, ich wäre in einem apokalyptischen Science-Fiction-Film gelandet. Man könnte Angst haben. Um die Welt. Um Mensch und Tier. Ums eigene Leben. Man könnte. Aber man muss nicht. In der Zeit des ersten Lockdowns haben die biblischen Losungen aus Herrnhut immer wieder kräftig dagegengehalten. Etwa am 20. März: „Der Herr deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit, er birgt mich im Schutz seines Zeltes.“ (Psalm 27,5). Oder am 12. April, dem Ostersonntag im Lockdown: „Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jesaja 60,2).
Es galt. Und es gilt. Auch in der trüben Jahreszeit und in unseren trüber werdenden Gedanken und Gefühlen.
Gottes Wirklichkeit in die Welt hineinbeten
Ich bete in diesen Wochen immer bewusster das Vaterunser. „Dein Reich komme! Dein Wille geschehe!“ Unsere Reiche kollabieren. Unser Wille bringt Zerstörung und Zerbruch. Mit unserem Latein sind wir am Ende. Darum: Dein Wille geschehe, Gott! Denn du willst das Leben, nicht den Tod. Du willst Aufblühen und nicht Absterben. Du willst Barmherzigkeit und nicht Rücksichtlosigkeit. „Allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten, und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt‘ Leben abzuringen“, dichtete Reinhold Schneider 1936. Allein den Betern. Und damit denen, die an eine Wirklichkeit jenseits unserer Wirklichkeit glauben und die diese Wirklichkeit immer wieder neu in unsere Welt hineinbeten und hineinleben. Vor allem auch in diesen Adventswochen. Wir bereiten uns auf Weihnachten vor. Wohl anders als in allen Jahren zuvor. Aber Weihnachten bleibt Weihnachten. Gott kommt. Auch 2020. Mitten hinein in diese Welt. Mit jeder Menge Hoffnung und Zuversicht im Gepäck. Und das alte Jesajawort klingt neu und aktuell: „Über dir geht auf der Herr.“ Über dir und neben dir und in dir. Jedes Weihnachten ist ein neuer Anfang.
Weihnachten ist Gottes Anti-Lockdown. Gott schließt den Himmel auf. In beide Richtungen. Der Lockdown verordnet uns den Rückzug in die eigenen vier Wände. Weihnachten aber markiert Gottes Auszug aus dem Himmel und seinen Einzug bei den Menschen. Und seine Einladung an uns, es ihm gleich zu tun und Lichtanzünder und Hoffnungwachküsser zu werden.
Nein, wir müssen nicht verzagen, und wir dürfen uns nicht ängstlich verkriechen. Wir wollen hoffnungsvoll aufblicken und barmherzig zur Seite. Und Mut machen und zupacken. Und fröhlich und zuversichtlich Weihnachten feiern.
Jürgen Werth, Jahrgang 1951, ist Journalist, Liedermacher und Autor. In diesem Frühjahr erschien von ihm „Lieber Dietrich … Dein Jürgen“, ein fiktiver Briefwechsel mit dem vor 75 Jahren ermordeten Theologen Dietrich Bonhoeffer.
Dieser Text erschein zuerst in der Ausgabe 6/2020 des Christlichen Medienmagazins pro. Sie können das Heft kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 06441/56677-00.