„Gottdemenz“. Gleich auf der dritten Seite des Romans „Die Ewigkeit ist ein guter Ort“ taucht dieser ungewöhnliche Begriff auf. Elke, die Pfarrerstochter und junge Theologin, die seit ihrer Kindheit eng mit Gott, Kirche und Glauben verbunden ist, kann plötzlich das Vaterunser nicht mehr sprechen. „Nach Dein Wille geschehe kam nichts mehr.“ Ausgerechnet am Sterbebett einer alten Dame fängt es an. Außer „Gebetebrei“ kann sie nichts weiter von sich geben.
„Wenn es Frühdemenz ist?“, fragt sie später ihren Freund Jan. Gedichte aus der Kindheit kann sie fehlerfrei zitieren. Nur bei den christlichen Liedern, die sie im Konfirmandenunterricht geschmettert hat, kommt sie nicht über die erste Zeile hinaus. „Vielleicht ist es Gottdemenz“, mutmaßt sie. Auf Jans Frage, was das sein soll, kommt die Antwort: „Einfach eine Berufskrankheit, bei der man die Dinge vergisst, die einem besonders wichtig sind.“
Elke kann nicht mehr in der Bibel lesen und beten. Das macht ihr zu schaffen. „Das Zwiegespräch, die eigentliche Begegnung mit Gott, war mal ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen.“ Wenn sie jetzt die Hände faltet, kommen ihr nur noch Flüche und Schimpfwörter in den Sinn.
Und damit nicht genug. Ihr ganzes Leben ist plötzlich ein großes Chaos. Alles, was ihr bisher wichtig war, wird in Frage gestellt. Ihr Glaube, ihre Beziehung zu Jan. Und dann ist da noch ihr Vater, der erwartet, dass sie seine Pfarrstelle in der Dorfgemeinde in der norddeutschen Provinz übernimmt, damit er kürzertreten kann.
Risse im Fundament
Elke fährt zu ihren Eltern. Aber nicht, weil sie Sehnsucht nach ihnen oder der alten Heimat hat. Röschen, die Frau, die in der Kindheit auf sie und ihren Bruder aufgepasst hat, will sie noch einmal sehen. In Edena, „die größte Stadt Deutschlands ohne Bahnhof“ wird sie von der Vergangenheit eingeholt. Fünfzehn Jahre zuvor war hier ihr Bruder Chris bei einem Badeunfall ums Leben gekommen, mit gerade mal 17 Jahren.
Ein Tabu-Thema in ihrer Familie. Sie ahnt, dass hier der Grund für ihre Gottdemenz zu finden ist. Von der „uralten“ Röschen, der Elke beim Umzug ins Altenheim hilft, bekommt sie nicht nur den Graupapagei Gertrude geschenkt, sondern auch den guten Rat, dass sie nur in sich hineinhorchen muss, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Tamar Noort: „Die Ewigkeit ist ein guter Ort“, Rowohlt, 304 Seiten, 22 Euro
Dafür muss Elke erstmal herausfinden, was sie glaubt, wofür sie einsteht, was ihr wichtig ist. Dabei hilft ihr der Motorradartist und Steilwandfahrer Lukas. Er zeigt ihr eine Welt, die sie bisher noch nicht kannte. Sie wird sogar Ansagerin der „Motodrom – Die Himmelreiter-Show“, bei der Lukas seine lebensgefährlichen Fahrten macht. Die Premiere endet in einem Desaster und mit einer Schwerverletzten. Am Tag danach sagt sie ihrem Vater, dass sie ihn in seiner Pfarrstelle vorrübergehend vertreten wird. Nicht aus Überzeugung. Sie hat keine andere Idee, wie es für sie weitergehen kann.
Im letzten Drittel des Buches erfährt man durch Rückblenden häppchenweise, wie es zu dem tragischen Badeunfall von Chris gekommen ist und welchen Einfluss das auf Elkes Leben und das ihrer Eltern hatte. Die Kirche, in der ihr Vater lange gepredigt hat und die nun Elkes Refugium ist, bekommt plötzlich Risse und das Fundament senkt sich. Ein Gleichnis für den Zustand von Elkes Glauben. Trotzdem wächst sie immer mehr in den Dienst als Pastorin hinein. Ermutigt wird sie von Nadja, der Pastorin der Nachbargemeinde, die ganz unkonventionell auftritt und die Elkes Zweifel nicht nur versteht, sondern immer wieder entkräftet mit Sätzen wie diesem: „Ich glaube, dass Glaube wachsen kann.“
Ernsthafte Begegnung mit dem Glauben
Im ersten Gottesdienst, den Elke frohen Herzens und ohne Manuskript vor der versammelten Gemeinde in der Dorfkirche ihres Heimatortes, hält, bekennt sie offen und ehrlich: „Ich weiß noch nicht, wie es um das Fundament bestellt ist. Aber ich möchte mein Leben gern im Licht dieser Ewigkeit sehen. Die Ewigkeit, das ist ein guter Ort.“
Von der ersten Seite an berührt die Ernsthaftigkeit, mit der Tamar Noort über den christlichen Glauben schreibt. Nie klingt es spöttisch oder kritisch, sondern regelrecht von Herzen kommend. Das war nicht zu erwarten. Manches ist für vielleicht etwas überzogen. Zum Beispiel, dass Elke aus der Vorstellung im Motodrom eine Art Gottesdienst machen will und dazu ihren Talar anzieht. Auch auf die unappetitlichen Beschreibungen, wie sie ein totes Mausebaby in einem Schmuckkästchen versteckt, auf die Fensterbank stellt, wo es langsam verwest und eine Fliegenplage im Schlafzimmer auslöst, hätte man gut verzichten können.
Tamar Noort sagte im NDR über ihren Debüt-Roman: „Mich hat interessiert, was passiert, wenn man diese Orientierungspunkte im Leben wegnimmt und sich selber schaffen muss: Woran glaube ich, und woran orientiere ich mich? Das kann sich auf jeden Lebensbereich beziehen – nicht nur auf den Glauben allein“ – aber eben auch auf ihn. Das ist das Besondere an diesem Roman, in dem sich auch engagierten Christen wiederfinden können. Vielleicht bringt die Geschichte von Elke die Leser dazu, die eigenen Standpunkte kritisch danach zu durchleuchten, ob man sie irgendwann von jemanden übernommen hat, ohne selber nachzudenken.