Dortmund ist Besucheranstürme gewohnt, vor allem wenn bei Heimspielen von Borussia Dortmund Zehntausende ins Stadion strömen. Doch der Kirchentag stellte die Stadt mit den 586.000 Einwohnern auf eine Belastungsprobe. Tagelang rollten die U-Bahnen im „Borussia-Takt“, um die mehr als 100.000 Besucher durch die Stadt zu chauffieren. Sie fuhren so oft, als sei der Kirchentag ein vier Tage langes Fußballspiel.
Der Bereich in den Westfalenhallen und das Gebiet um das Opernhaus waren von Mittwoch bis Sonntag fest in der Hand der Kirchentagsbesucher. An jeder Ecke spielten Posaunenchöre, tanzten Jugendliche zu lauten Beats. Auf einer Bühne spielte eine Jazzcombo, nur wenige Meter weiter brüllte ein Metal-Sänger ins Mikro. Jugendliche haben ein Klavier in die Fußgängerzone gestellt, drei junge Frauen standen dabei und leiteten die Erwachsenen an. Und drumherum ein Meer aus grünen Kirchentagsschals, auf denen das Motto „Was für ein Vertrauen“ stand.
Junge Helfer in Pfadfinderuniform zeigten den Besuchern mit nicht enden wollender Freundlichkeit, wo es zu ihrer nächsten Veranstaltung geht – auch bei 30 Grad im Schatten. Von der Borussia kenne er dieses dichte Gedränge ja, sagte ein Sicherheitsmitarbeiter der Verkehrsbetriebe. Aber beim Kirchentag seien die Leute doch irgendwie pflegeleichter. Kein Müll lag herum, und sollte einem Kirchentagler doch einmal etwas aus dem Jutebeutel gefallen sein, kümmerte sich sofort jemand anders darum.
1. Klima, Klima, Klima
Aus mehr als 2.000 Veranstaltungen konnten die Besucher ihr persönliches Programm zusammenstellen. Niemand kann darüber eine erschöpfende Bilanz ziehen, nicht einmal einer, der dabei war. Doch eines fiel auf: Fast überall ging es um die Rettung des Klimas – in Predigten, Bibelarbeiten, Vorträgen: Klima, Klima, Klima. Das Publikum scheint keineswegs gelangweilt davon zu sein, im Gegenteil. Als Angela Merkel nach 20 Minuten Redezeit immer noch nichts Eindeutiges zum Klima gesagt hatte, begannen manche Kirchentagler schon, auf den Stühlen nervös hin und her zu rutschen. Die Bewahrung der Schöpfung ist hier für Viele die drängendste Aufgabe der Kirche in Deutschland, abgesehen von einer humanen Flüchtlingspolitik.
Viele Redner, selbst der Bundespräsident, betonten auch die Verantwortung des Einzelnen – und erhielten dafür viel Beifall: Klimaschutz bedeutet eben auch Verzicht auf Flugreisen und natürlich auf Fleisch. Trotzdem waren die Schlangen vor den Currywurst-Ständen (immerhin Bio) mindestens genausolang wie bei dem vegetarisch-veganen Imbiss vor dem großen weißen Zelt der „Geschlechterwelten“, wo unter anderem Frauen lernen können, wie sie „schöner kommen“ können. „Schöner kommen“ und „Vulven malen“ erregte bei den Medien und Nichtanwesenden verständlicherweise das größte Interesse – ein so großes, dass die zahlreichen Journalisten, die den vulvenmalenden Kirchentagsbesuchern über die Schulter schauen wollten, nicht hereingelassen wurden. Es war wohl auch besser so.
Von: Nicolai Franz
2. Tiefgründige Bibelarbeiten
Doch wer den Kirchentag auf solche – natürlich kuriose – Angebote reduziert, wird ihm nicht gerecht. Alleine die täglichen Bibelarbeiten, teils sehr tiefgründig und nah am Text, zeigten, dass es hier um mehr geht als um Politik, sondern auch um geistliche Themen. Die ausgewählten Bibelstellen waren keineswegs leichte Texte: Die Leidensgeschichte von Hiob, die Geschichte von Abraham, der Isaak opfern sollte, und die Prostituierte, die Jesus die Füße mit ihren Haaren trocknet und die Vergebung erfährt. Kein Kuschelprogramm, sondern schwere Kost. Mutig, aber lobenswert, dass der Kirchentag sich solcher Themen annimmt. Und dass sie mit so unterschiedlichen Menschen wie dem Unternehmer Heinrich Deichmann, Margot Käßmann oder Politikern wie Armin Laschet (CDU) oder Katrin Göring-Eckardt (Grüne) eine Mischung präsentierte, die unterschiedliche Zugänge auf die Texte zuließ.
Von: Nicolai Franz
Die Bibelarbeiten am Morgen gehörten zu den klaren Höhepunkte des Evangelischen Kirchentages. Zumal in einigen Fällen wie beim Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo oder der „Panorama“-Moderatorin Anja Reschke dreierlei zusammenkam: Sie waren zum ersten Mal bei der Bibelarbeit eines Kirchentages; sie gehören zu den prominentesten Köpfen ihrer journalistischen Zunft; und dafür, dass sich ihre Erfahrungswerte damit in Grenzen hielten, waren es doch anregende bis herausfordernde Perspektiven auf die Bibel, die im besten Fall in die säkulare Welt ausstrahlen und Nachahmer finden.
Von: Michael Müller
3. Kirchensprech
Interessant wurden die Vorträge und Bibelarbeiten vor allem dann, wenn sie von Nichttheologen gehalten wurden. Eckart von Hirschhausen legte vor 10.000 Protestanten eine Stunde lang die Geschichte der Prostituierten aus. Er baute Aktionen ein, bei denen sich die Zuhörer mit ihrem Nachbarn austauschen sollten, sprach oft frei, während er auf- und abging, baute Bilder und Videos ein, zitierte Studienergebnisse, die mit dem Thema des Textes zu tun hatten.
Wenn hingegen Theologen in Amt und Würden über Geistliches sprachen, drifteten viele von ihnen in den typischen Kirchensprech ab: Irgendwie entrückt, im Betroffenheitsmodus, nicht fröhlich, nicht lustig, dafür offenbar bemüht, den Lyrik-Preis des Kirchentages zu gewinnen (den es nicht gibt). Besonders deutlich wurde das beim Eröffnungsgottesdienst. Es bleibt ein Rätsel, warum die Kirche sich nicht viel mehr darum bemüht, wie Luther „dem Volk aufs Maul zu schauen“: So zu sprechen, dass es auch Nichteingeweihte und Nichtakademiker verstehen. So mutig zu sein, auch einmal undifferenziert zu formulieren.
Bei politischen Forderungen gelingt das erstaunlich gut, bei geistlichen Inhalten viel zu selten. „‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’ bedeutet ‚liebe deinen Nächsten, denn der ist genauso scheiße wie du“, sagte Eckart von Hirschhausen. Das hat durchaus etwas von lutherischer Derbheit, einem Bischof oder einer Präses käme so ein Satz wohl kaum über die Lippen.
Von: Nicolai Franz
4. Die Helfer
Die Tausenden von ehrenamtlichen Helfer sind die heimlichen Helden des Kirchentages. Bei hochsommerlichen Temperaturen harren sie aus, weisen freundlich den Weg durch das Messegelände oder die Stadt. Mit den überfüllten U-Bahn-Haltestellen und dem dicht gedrängten Programm von mehr als 2.000 Veranstaltungen war es eine Herausforderung, immer rechtzeitig zu Veranstaltungsorten hinzugelangen. Als der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck zum Thema „German Angst“ im Dortmunder Konzerthaus am Donnerstag sprach, war die Veranstaltung restlos ausverkauft.
Trotzdem machten es die Helfer möglich, dass der rasende Reporter doch noch irgendwie einen letzten bescheidenen Platz auf der edlen Empore bekam. Dass es dann am ganzen Nachmittag fast gar nicht um Religion ging, ist ein anderes Kapitel. Aber dass überhaupt immer wieder verstellte Wege und Tore aufgemacht und Orientierungslosigkeiten aufgelöst wurden, dafür sorgten die ehrenamtlichen Unterstützer des Kirchentages, denen auf diesem Wege nochmal herzlich gedankt sei.
Von: Michael Müller