Was Kinder wirklich wollen: Vorlesen! Jetzt!

Nur in jeder zweiten Familie lesen die Eltern ihren Kindern etwas vor. Dabei gibt es nichts Besseres als die Beschäftigung mit Büchern, um die Sprachentwicklung, Kreativität und Fantasie eines Kindes zu fördern. Und: Vorlesen macht Eltern und Kindern Spaß. "Aktion Lesestart" soll Eltern dazu ermutigen, regelmäßig mit ihren Kleinkindern Bücher anzusehen.
Von PRO

In der Familie Bauer findet jeden Abend das gleiche Ritual statt. Mama oder Papa setzen sich mit dem eineinhalbjährigen Lars auf den Boden im Kinderzimmer. Vor ihnen steht eine Rollkiste, aus der Lars ein Bilderbuch aussucht. Dann kuschelt er sich gemütlich an, und sie betrachten gemeinsam die Bilder. Heute hat er ein Bilderbuch von einem Bauernhof ausgesucht.

Was bei Familie Bauer zu einem täglichen Ritual gehört, kommt in 42 Prozent der Familien mit Kindern unter zehn Jahren kaum vor: Hier lesen die Eltern selten oder nie vor. Damit verschenken sie die Chance, die Sprachentwicklung, Kreativität und Fantasie ihres Kindes zu fördern. Denn all dies passiert, wenn kleine Kinder und Erwachsene gemeinsam Bilderbücher betrachten und darüber reden. Je früher man Kinder ans Vorlesen und Erzählen heranführt und Eltern für das Thema Lese- und Sprachförderung sensibilisiert, desto besser. Wenn man bedenkt, dass 20 Prozent der heute 15-Jährigen laut der Pisa-Studie an der Schwelle zum Analphabetismus stehen, wird klar, dass man die Kulturtechnik Lesen gar nicht früh genug fördern kann.

Wie oft nutzen wir im Alltag unsere Lesefähigkeit – ohne uns das überhaupt bewusst zu machen? Beim Einkaufen, Zeitung Lesen oder SMS Schreiben, wenn wir Straßen- oder Türschilder lesen. Auch das Internet basiert auf Texten. Lesen ist eine Schlüsselqualifikation, ohne die wir in der Mediengesellschaft nicht weiterkommen. Und Lesen ist der Schlüssel zu Bildung und der späteren Berufsausbildung.

Aktion „Lesestart“ – das Buchpaket vom Kinderarzt

Um in den Familien das Vorlesen schon bei kleinen Kindern zu fördern, startete die Stiftung Lesen am 29. Mai eine bundesweite Aktion zur Sprach- und Leseförderung von Kleinkindern, die Aktion „Lesestart“. In den kommenden zwei Jahren erhalten Eltern, die ihr Kleinkind zur Vorsorgeuntersuchung „U6“ bringen, von ihrem Kinderarzt ein kostenloses „Lesestartpaket“. Darin befindet sich ein Bilderbuch aus dem Hause Ravensburger, ein Ratgeber, der Eltern zum Vorlesen anleitet, ein Poster sowie ein Lesetagebuch, in dem die Lese- und Sprach-entwicklung des Kindes festgehalten wird. Eine halbe Million Buchpakete stehen zur Verfügung, also kommt ein Drittel aller Eltern, deren Kinder zwischen Juni 2008 und Mai 2010 ein Jahr alt werden, in den Genuss eines Buchpaketes. Die Aktion wird durch die Unterstützung des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagebau, einiger Verlage sowie weiterer Unternehmen der Druck- und Papierbranche ermöglicht. Falls sich noch weitere Sponsoren finden, wird Stiftung Lesen das Projekt ausweiten. An der Aktion beteiligen sich bisher knapp 2.700 Kinderärzte.

In dem Vorlese-Ratgeber erfahren Eltern, dass sie nicht zwanghaft Seite für Seite abarbeiten müssen, sondern dass es auf den spielerischen Zugang zu Büchern ankommt. „Das Wichtigste ist der Dialog, das Gespräch zwischen Eltern und Kindern. Kinder lieben es, wenn Eltern sich konzentriert mit ihnen beschäftigen. Das verleiht dem Buch einen besonderen Stellenwert“, sagt Sabine Bonewitz, die Leiterin des Projektes.

Wenn Lars also mit seiner Mutter Bilderbücher betrachtet, mit dem Finger auf die Kuh zeigt und „Muh“ sagt, zeigt dies, dass er die Kuh, die er schon auf der Weide gesehen hat, im Buch wieder erkennt und dazu schon einen Laut findet. Lesen setzt Denkprozesse in Gang, fördert die Sprachentwicklung und die Kreativität. Außerdem verbindet Lars das Buch mit gemeinsamem Kuscheln, wobei sich Vater oder Mutter ganz konzentriert mit ihm beschäftigen. Damit ist das Buch für ihn etwas Erstrebenswertes. Je älter er wird, desto öfter wird er vielleicht mit einem Buch in der Hand kommen und sagen: „Mama, Buch gucken“! Und damit ist ein dicker Grundstein für seine Lesefähigkeit und Sprachentwicklung gelegt.

„Lesestart“ soll Eltern die Bedeutung des frühen Lesens deutlich machen und ihnen Anleitung geben, wie sie´s machen können. Das Vorbild ist die Aktion „bookstart“, die in Großbritannien bereits seit 1992 durchgeführt wird. Auch hier erhielten britische Eltern ein kostenloses Paket mit einem Kinderbuch und Informationsmaterial zur Leseförderung. Die wissenschaftliche Begleitforschung ergab, dass Eltern sich durch die Initiative stärker motiviert fühlten, mit ihren Kindern zu lesen. Alle Eltern waren der Ansicht, dass die Babys am Material interessiert seien. Ein Viertel der Eltern erzählte, dass das Projekt dazu beigetragen habe, selbst verstärkt Bibliotheken zu besuchen.

Mutmachend waren die Untersuchungsergebnisse, als die „Bookstart“-Kinder eingeschult wurden: Sie verfügten über eine deutlich bessere Lese- und Schreibkompetenz und waren anderen Kindern in allen Fächern voraus. Diese Ergebnisse gaben den Anlass, das Projekt auch in Deutschland zu realisieren.

In Großbritannien hat sich das Projekt etabliert. 2,1 Millionen britische Kinder nehmen jährlich teil. Insgesamt erhalten britische Familien sogar drei Buchpakete. Das erste, wenn die Kinder 6 bis 9 Monate alt sind, ein zweites mit 18 bis 20 Monaten und ein weiteres zum dritten Geburtstag. Zusätzlich fördert „Bookstart“ die Kinder mit jeweils einem weiteren altersgerechten Bücherpaket zum Eintritt in die Grund- und in die weiterführende Schule. Das britische Projekt wird überwiegend durch staatliche Förderung des britischen Finanzministeriums getragen, das die Kampagne in den Jahren 2005 bis 2008 mit 27 Millionen Pfund förderte.

In Deutschland lief bereits das Modellprojekt „Lesestart – mit Büchern wachsen“ seit November 2006 in Sachsen. Dort wurden von 200 teilnehmenden Kinderärzten rund 19.000 Büchertaschen verteilt. Laut der Auswertung durch das Medieninstitut der Universität Leipzig haben 10 Prozent der Eltern durch die Aktion angefangen, mit ihrem Kind Bücher anzuschauen. 30 Prozent der knapp 400 teilnehmenden Eltern wurden angeregt, öfter als vorher gemeinsam ein Buch in die Hand zu nehmen.

Grund genug für die Stiftung Lesen, das Projekt nun bundesweit durchzuführen. Die Stiftung setzt große Erwartungen in die Aktion. Je früher Kinder die Gelegenheit haben, in faszinierende Bücherwelten einzutauchen, desto selbstverständlicher wird ihr Umgang damit werden. Das trifft bereits auf die Allerkleinsten zu. „Die können natürlich noch nicht lesen – sollen sie auch gar nicht, das lernen sie später in der Schule – aber sie nehmen Bücher mit all ihren Sinnen wahr: Sie fühlen, riechen, ‚schmecken’ und spielen mit Büchern – sie ‚be-greifen’ sie im wahrsten Sinn des Wortes“, erklärt Heinrich Kreibich, Geschäftsführer der Stiftung Lesen.

Projektleiterin Sabine Bonewitz ermutigt Mütter und Väter: „Eltern machen es meist intuitiv richtig, wenn sie mit dem Kind gemeinsam ein Bilderbuch ansehen. Viele Eltern denken nur einfach nicht daran, mit einem Kleinkind bereits Bücher zu benutzen.“

Und was sollten Eltern tun, wenn das Kind nicht stillsitzen will? „Versuchen Sie, Ihr Kind für die Bilder zu begeistern. Wenn das nicht klappt, lassen Sie es herumlaufen. Sicher finden Sie einen anderen Zeitpunkt, an dem Ihr Kind eher bereit ist, zuzuhören“, so die Lese-Expertin. Vorlesen sollte Eltern und Kindern Spaß machen! „In dem Alter reichen auch fünf Minuten, es muss keine halbe Stunde sein. Auf keinen Fall sollten Eltern das Kind zwingen, auf dem Schoß zu sitzen, um ein Buch anzusehen. Manchmal hilft es auch, sich zum Kind auf den Boden zu setzen oder zu legen.“

Die Fernsehmoderatorin Barbara Eligmann erinnert sich an die Zeit, als ihr Sohn klein war: „Das erste Buch muss einiges aushalten, wenn ein kleiner Mensch es erforscht. Reinbeißen geht gut. Und runterwerfen auch. Ich weiß noch, als wir das erste Buch für unseren Sohn geschenkt bekamen. 13 Monate war er da gerade, hatte einen Haufen Spielsachen, aber noch nichts zum ’Lesen’. Ein Kollege gab mir das Buch und den Tipp: ‚Schaut euch gemeinsam die Bilder an, erzähl ihm dazu was, dann fängt er bald an zu sprechen.’ So habe ich es gemacht – und so ist es gekommen.“

Tipps für Eltern zur Leseförderung
Die sieben goldenen Vorleseregeln, zusammengestellt von der Stiftung Lesen.

Suchen Sie sich einen ruhigen, gemütlichen Ort, an dem Sie mit Ihren Kindern kuscheln können.

Wählen Sie einen günstigen Augenblick, eine Ruhephase am Tag oder den Abend. Am besten ritualisieren Sie das Vorlesen, d. h. es findet zu regelmäßigen Zeiten statt und wird in der Regel nicht gestört.

Haben Sie Geduld mit Ihren Kindern. Gehen Sie auf Zwischenfragen ein. Lassen Sie auch Ihre Kinder Bücher auswählen.

Vermeiden Sie das „Runterleiern“, denn Kinder spüren, wenn Sie mit Ihren Gedanken woanders sind.

Am besten lesen Sie Bücher vor, die auch Ihnen gefallen. Auf diese Weise macht Ihnen das Vorlesen noch mehr Spaß.

Nehmen Sie sich Zeit, um nach dem Vorlesen mit Ihrem Kind zu sprechen.

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