Was die Bibel über Flüchtlinge sagt – und meint

Nicht alle Bibelstellen zum Thema Flucht lassen sich auf die heutige Zeit übertragen. Das sagte der Theologe Stephan Holthaus im Gespräch mit pro. Er erklärte, dass auch ein Aufnahmestopp unter Umständen mit der christlichen Ethik vereinbar sei.
Von PRO
Stephan Holthaus leitet das Institut für Ethik und Werte an der Freien Theologischen Hochschule Gießen
In der Flüchtlingsdebatte wird oft mit der Bibel argumentiert. Was sagt das Buch der Bücher eigentlich zu Flüchtlingen und zum Thema Nächstenliebe? Und nach den Anschlägen von Paris: Wie ist die Feindesliebe zu verstehen? pro hat mit Stephan Holthaus von der Freien Theologischen Hochschule Gießen (FTH) über das Thema gesprochen. Der evangelische Theologe mit Schwerpunkt auf Neuerer Kirchengeschichte und Ethik ist Dozent und Prorektor der FTH. Außerdem leitet er das Institut für Ethik und Werte.

pro: Oftmals argumentieren Christen in der Flüchtlingsdebatte mit dem 2. Buch Mose, wo es heißt „Die Fremdlinge sollt ihr nicht schinden noch unterdrücken“. Im 4. Buch Mose wird gleiches Recht für Einheimische und Fremde gefordert. Lässt sich diese Bibelstelle auf die heutige Situation moderner Staaten übertragen?

Stephan Holthaus: Alttestamentliche Bibeltexte wie 2. Mose 22,20, die mit dem Volk Israel zu tun haben, kann man nicht immer 1:1 auf heute übertragen, weil sie nur für eine bestimmte geschichtliche Situation gelten. Aber die Prinzipien, die dahinterstehen, sind zeitlos. In Israel gab es, im Gegensatz zu manchen umliegenden Nationen, eine Hochachtung des „Fremdlings“. Daran haben später auch die Christen angeknüpft. Generelle Fremdenfeindlichkeit gab es nicht, auch deswegen, weil das Volk Israel ja selbst Fremdlinge in Ägypten gewesen waren.

Ist es richtig, dass bei diesen Stellen „Beisassen“ gemeint sind, die sich weitgehend in das Volk Israel assimiliert haben, und denen harte Sanktionen drohten, wenn sie das einmal weniger tun oder kriminell werden?

Das Alte Testament kennt verschiedene Begriffe für Ausländer. In 2. Mose 22,20 sind die sesshaften Ausländer gemeint, die schon längere Zeit in Israel lebten. Sie hatten Rechte und Pflichten. Diese quasi schon integrierten Fremdlinge sollten geschützt werden, mussten sich aber gleichzeitig auch bestimmten religiösen Geboten des Volkes Gottes unterwerfen. Dazu gehört beispielsweise das Sabbatgebot, demzufolge auch sie nicht arbeiten durften. Dies zeigt: Integration funktionierte auch damals nicht ohne Anpassung an die Kultur.

Auch das Gleichnis des barmherzigen Samariters wird als Argument herangezogen. Wie bewerten Sie diese Schriftstelle im Lukasevangelium, Kapitel 10?

Die Botschaft des Gleichnisses ist zunächst einmal die selbstlose Fürsorge für den Notleidenden und die Kritik an der Hartherzigkeit der religiösen Führer, die an der Not einfach vorbeigehen. Erst in zweiter Linie geht es auch um Grenzen der Hilfsbereitschaft. Die liegen darin, dass der Samariter schon am nächsten Tag weiterzog, weil seine Geschäfte warteten. Er konnte nicht bis zur völligen Genesung bleiben. Aber er trug Sorge, dass jemand anderes sich um den Verletzten kümmerte. Deshalb: Wegschauen gilt nicht. Aber auch realistisch die Kosten überschlagen. Hilflose Helfer helfen nicht.

Was meinen Sie, hätte der Samariter getan, wenn nicht einer, sondern fünf Männer um seine Hilfe gebeten hätten?

Er wäre hoffentlich dem Priester und dem Leviten, die vorher vorbeigegangen waren, hinterhergeritten, hätte ihnen die Leviten gelesen und gemeinsam hätten sie sich dann um die Gruppe gekümmert. Wenn die Not zu groß wird, braucht es Verbündete. Die gibt es, auch international.

Der freikirchliche Pastor Jakob Tscharntke hat im Zusammenhang mit Asylbewerbern von „einfallenden räuberischen Horden, die unser Land ausplündern“, gesprochen. Deren Versorgung habe die Bibel nicht gemeint, wenn sie von Nächstenliebe spricht.

Natürlich gibt es auch Asylmissbrauch, ein schlimmes Vergehen, gegen das jetzt zu Recht schärfer vorgegangen werden muss. Die erschreckende Wortwahl mancher in unseren Tagen wird dadurch aber nicht gerechtfertigt, sie rührt vermutlich daher, dass diese Menschen offensichtlich noch nie einen Ausländer oder Flüchtling gesehen oder mit ihm gesprochen haben. Das erinnert fatal an die fremdenfeindlichen Töne der Ägypter gegen die Israeliten in 2. Mose 1.

In der Debatte wird von den Kirchen die biblische Nächstenliebe, nach den Anschlägen von Paris auch die Feindesliebe betont. Wie sind diese Gebote zu verstehen – als Handlungsanweisungen für das Individuum in seinem persönlichen Umfeld, oder auch als Regierungsprogramm? Anders gefragt: Müssen Christen auch von Polizei, Innenministerium und Bundeswehr Feindesliebe verlangen?

Das sind keine Anweisungen an Regierungen. Die Bibel spricht im Römerbrief, Kapitel 13, vom „Schwertamt“ des Staates und meint damit das Recht und die Pflicht, seine Bürger vor Krieg und Gewalt zu schützen, zur Not auch mit Waffengewalt. Wenn ein Staat das nicht tut, macht er sich schuldig. Der Einsatz von Gewalt gegen Selbstmordattentäter ist aber sowie auch ein spezieller Akt der Feindesliebe, denn man schützt diese Menschen ja davor, eine unglaubliche Bluttat zu begehen. Von daher ist das kein absoluter Widerspruch.

Können Sie noch mehr zu Römer 13 sagen, wo es heißt, der Staat trage das Schwert nicht umsonst, sondern sei Gottes Dienerin zur Rache?

Das Gewaltmonopol des Staates ist dem Staat von Gott gegeben. Von daher hat er von Gott die Autorität dazu, aber gleichzeitig, und das ist wichtig, auch seine Grenze. Selbst der Staat muss sich vor Gott verantworten, er steht unter Gott. Wenn er sich absolut setzt und zum totalitären Staat wird, ist er nicht mehr „Gottes Dienerin“. Dann ist Widerstand geboten.

Deutschland scheint angesichts der vielen Asylbewerber vielerorts am Ende seiner Kapazitäten angelangt. Wäre auch ein Aufnahmestopp von Asylbewerbern mit der christlichen Ethik vereinbar, wenn unsere praktischen Grenzen erreicht sind?

Natürlich. Jeder wird Verständnis dafür haben, wenn die Kapazitäten erschöpft sind. Das ist eine Frage der Logik. Es hilft Niemandem, wenn die Situation eskaliert, auch den Flüchtlingen nicht. Deshalb kann das tatsächlich nur eine Gemeinschaftsaufgabe vieler Länder sein. Alleine ist das nicht zu meistern.

Kritiker der Bundesregierung werfen Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, ihren Amtseid zu brechen, in dem es heißt, sie müsse den Nutzen des deutschen Volkes mehren und Schaden von ihm abwenden. Vernachlässigt die Bundesregierung die Nächstenliebe für das eigene Volk? Kann man die Nächstenliebe für Asylbewerber und die langfristige Stabilität Deutschlands gegeneinander ausspielen?

Ich erlebe an der Basis eine unglaubliche Hilfsbereitschaft der Menschen in unserem Land, die auch international beachtet und bestaunt wird. Dass einige Scharfmacher das alles jetzt ausnutzen, um Unsicherheit und Angst zu säen, ist perfide. Die Frage nach der Stabilität stellt sich sowieso erst bei der Frage der Integration, nicht bei der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. Und hier sind wir das eigentliche Problem.

Warum?

Wir haben die Integrationsprobleme deswegen, weil Deutschland seine eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln verloren hat. Denn es stellt sich die Frage: Wohin sollen die Leute eigentlich integriert werden? Da müssen wir erst einmal unsere eigenen Hausaufgaben machen.

Wie sehen diese Hausaufgaben aus, was soll Deutschland, was sollen die Bürger tun?

Es geht darum, die eigenen kulturellen und religiösen Werte wieder zu entdecken, die unser Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Freiheit, Gerechtigkeit und Rücksichtnahme kommen nicht von selbst, sondern gedeihen nur auf einer gemeinsamen sittlichen Grundlage. Die war über Jahrhunderte der christliche Glaube. Seitdem der immer mehr verdampft, sind uns die gemeinsamen Werte verloren gegangen. Ausländer wissen dagegen manchmal viel besser als wir, was „deutsche Werte“ sind. Gerade deshalb kommen die ja zu uns.

Bereits heute gibt es in Deutschland Parallelgesellschaften; sogar Angela Merkel selbst hat erklärt, Multikulti sei gescheitert. Worauf gründet Ihre Annahme, dass Integration dann gelingen kann?

Integration funktioniert nur mit einer gemeinsamen Werteordnung. Das Grundgesetz ist hier eine gute Basis. Aber auch das beruht wieder auf gemeinsamen ethischen Überzeugungen. Der christliche Glaube mit seinen Zehn Geboten ist die Klammer, die wir brauchen. Das können und müssen auch die Menschen mit Migrationshintergrund akzeptieren, damit Integration gelingt. Das gilt übrigens für jedes Land der Welt.

Wie können wir reagieren, wenn Menschen mit Migrationshintergrund dies eben nicht akzeptieren wollen?

Die Zehn Gebote enthalten ethische Prinzipien, die auch von allen Menschen guten Willens akzeptiert werden können. Das deutsche Grundgesetz fußt auf diesen Werten. Wer das nicht akzeptieren will oder kann, ist in Staaten mit anderen Grundwerten viel besser aufgehoben.

Im Galaterbrief heißt es: „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (6,10). Wäre es sinnvoll, in erster Linie geflohene Christen in Deutschland aufzunehmen, auch deswegen, weil ihnen eine Integration leichter fallen könnte?

Die Anweisung ist an Christen geschrieben. Deshalb stimmt es, dass Christen auch eine besondere Verantwortung für die Glaubensgeschwister haben. Das gilt aber nicht unbedingt für den säkularen Staat. Ich meine aber, dass gerade Deutschland sich mehr um verfolgte Christen und christliche Flüchtlinge kümmern muss. Es geht überhaupt nicht, dass solche Leute in Flüchtlingsheimen schikaniert werden.

Befürworter offener Grenzen nehmen in Kauf, Schlepperbanden Anreize zu liefern. Und sie nehmen in Kauf, den ohnehin brüchigen Staaten im Nahen Osten einen Großteil der Bürger, auch aus Ober- und Mittelschicht, zu entziehen. Das verschlechtert dort die Zukunftsperspektive.

Das stimmt alles, aber kann nicht heißen, die Grenzen dicht zu machen. Genauso kann ich nicht generell das Kindergeld streichen, nur weil einige Eltern davon einen neuen Fernseher kaufen. Wer aus der Not des Nächsten Kapital schlägt, muss bestraft werden. Und natürlich muss man in Zukunft die Rahmenbedingungen in den betroffenen Ländern so verbessern, dass Rückkehr eine realistische Option ist. Von daher sind Deutschland und die Welt in Zukunft gefordert, dort vor Ort Aufbauhilfe zu leisten. Anders wird es nicht gehen.

Der amerikanische Präsidentschaftskandidat Rick Santorum argumentiert, wer Flüchtlinge aufnehme, spiele damit dem Islamischen Staat in die Hände, weil dieser sein Gebiet von allen Christen, Juden und moderaten Muslime „säubern“ will. Wie logisch ist diese Schlussfolgerung?

Das ist natürlich ein ungeheuerlicher Unsinn. Wer vor den Schergen des IS flieht, tut es, um sein Leben zu retten. Solche Menschen nicht aufzunehmen, nur, damit die Heimatgebiete nicht „gereinigt“ sind, wäre unverantwortlich. Ich würde Rick Santorum raten, er solle doch selber in einem IS-Gebiet seinen Zweitwohnsitz anmelden, um den Mörderbanden nicht das Feld zu überlassen.

Herr Holthaus, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Moritz Breckner. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/wie-christen-auf-die-anschlaege-in-paris-reagieren-94061/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/irion-macht-der-ohnmaechtigen-94087/
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