Warum weiße US-Evangelikale Trump wirklich unterstützten

Mit der Amtseinführung Joe Bidens als neuem US-Präsidenten endeten vier Jahre, die das Land tief gespalten haben. Evangelikale Christen galten als treue Unterstützer Donald Trumps, vor allem wegen seiner Haltung zu Abtreibung. pro-Recherchen zeigen: Die Lage ist viel differenzierter. Vor allem der weiße Nationalismus spielte eine entscheidende Rolle. Von Nicolai Franz
Von Nicolai Franz
Gebetsrunde im Green Room des Weißen Hauses: Donald Trump, Mike Pence und andere

6. Januar 2021. So hat sich Mike Pence das Ende seiner Vizepräsidentschaft nicht vorgestellt. Zweimal wollten die Sicherheitskräfte ihn schon aus dem Plenarsaal des Senats eskortieren. Der Mob vor dem Kapitol tobt immer stärker, doch Pence entscheidet sich zu bleiben. Er werde sich nicht von einer wilden Horde aus dem Kapitol jagen lassen, sagt er laut Washington Post, die sich auf Sicherheitskreise beruft.

Während der Aufstände am 6. Januar: Ein Galgen und „In God We Trust“ – für radikale Trumpisten offenbar kein Widerspruch Foto: Tyler Merbler | CC BY-SA 2.0 Generic
Während der Aufstände am 6. Januar: Ein Galgen und „In God We Trust“ – für radikale Trumpisten offenbar kein Widerspruch

Um 14.11 Uhr dringen die ersten Aufständischen ins Kapitol ein. In Sprechchören brüllen einige: „Hängt Mike Pence!“ Zwei Minuten später lässt ihm die Security keine Wahl. Über einen zuvor von Scharfschützen gesicherten Fluchtweg eskortieren sie Pence in einen Sicherheitsraum. Auch seine Familie und einige Mitarbeiter verstecken sich dort.

Als die Randalierer die Türen des Plenarsaals aufbrechen und grölend ins Innere strömen, verpassen sie Pence nur um Sekunden. Auf Videos ist zu sehen, wie sich Trump-Fans, rechtsextreme „Proud Boys“ und Männer in voller Kampfmontur an die Tische machen, Dokumente fotografieren.

Die Stimmung ist euphorisch.

Ein Mann mit nacktem Oberkörper, bemaltem Gesicht und einer Kopfbedeckung aus Fell und Hörnern posiert grunzend vor einem Reporter, die Bilder gehen um die Welt. Einige Aufständische stellen sich um den Stuhl von Pence auf, der als Vizepräsident den Vorsitz des Senats innehat. Ein junger Mann mit langen Haaren und Trump-Mütze schließt die Augen und reckt die Faust in die Höhe: „Jesus Christus, wir rufen deinen Namen an, Amen!“ Der Mann mit den Hörnern schlägt ein Gebet vor, das er in ein Megafon brüllt: „Danke, himmlischer Vater, dass du uns in deiner Gnade diese Möglichkeit schenkst, uns für unsere gottgegebenen Rechte einzusetzen.“ Eine in mehrerer Hinsicht verstörende, eine erschreckende Szene.

Die USA sind am Ende der Präsidentschaft Trumps auf einem historischen Tiefpunkt angelangt.

Ab 7:56: Trump-Anhänger beten im Plenarsaal des Senats

Pence erlebte in diesen Minuten, wie es sich anfühlt, wenn Donald Trump einen fallen lässt. Vier Jahre lang hatte er dem Präsidenten als einer der engsten Mitarbeiter treu gedient. Minister, Pressesprecher und Stabschefs kamen und gingen, teils unter größten Zerwürfnissen, mehrere von ihnen rechneten nach ihrer Amtszeit mit Trump in Büchern ab. Ganz anders Pence: Kein kritisches Wort über seinen Chef kam ihm über die Lippen, auch nicht im Zuge der zahlreichen Skandale, nachgewiesenen Lügen und der Erfindung einer „gestohlenen Wahl“.

Lügen, Skandale, Amtsenthebungsverfahren: Mike Pence hielt trotzdem zu Trump (Juli 2020, Weißes Haus) Foto: Trump White House
Lügen, Skandale, Amtsenthebungsverfahren: Mike Pence hielt trotzdem zu Trump (Juli 2020, Weißes Haus)

Der Kongress hatte am 6. Januar die eher protokollarische Aufgabe, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl zu bestätigen. Trump sah das als letzte Chance, doch noch im Amt überdauern zu können. Daher verlangte er öffentlich von Pence, der die Sitzung leitete, die Stimmen aus den für die Republikaner verlorenen Bundesstaaten nicht anzuerkennen. Pence stellte klar: Das steht ihm verfassungsmäßig nicht zu.

Inakzeptabel für Trump.

Auf einer Rede vor der Kongresssitzung rief der Präsident seine Anhänger auf, vor das Kapitol zu ziehen und die Abgeordneten „anzufeuern“, denn „ihr bekommt euer Land niemals mit Schwäche zurück. Ihr müsst Stärke zeigen, und ihr müsst stark sein.“ Namentlich nannte Trump auch Pence: „Wenn Mike Pence das Richtige tut, werden wir die Wahl gewinnen.“ (Hier geht es zum ganzen Transkript)

Der Präsident in seiner Rede am 6. Januar, bevor seine Anhänger das Kapitol stürmten

Als der Mob ins Kapitol eindrang, lehnte Trump laut Medienberichten die Bitte nach Unterstützung der Sicherheitskräfte ab. Es war der eingeschlossene Pence, der schließlich eingriff, um den Einsatz von mehr als 1.000 Nationalgardisten freizugeben.

Uneinigkeit bei den Grahams

Pence ist tiefgläubig, evangelikaler Christ, konservativ vom Scheitel bis zur Sohle. Er baute Brücken für Trump in Gemeinden, sorgte dafür, dass auch fromme Kirchgänger den Immobilienunternehmer trotz dessen sexueller Eskapaden und rüden Ausdrucksweise zum Präsidenten wählten. Noch zwei Tage vor der Wahl, am 1. November 2020, besuchte Pence einen Gottesdienst in Boone, North Carolina, wo er herzlich von Franklin Graham begrüßt wurde. Er ist einer der glühendsten Unterstützer Trumps, er betete bei dessen Amtseinführung und verteidigte ihn durchweg. Franklins Vater Billy Graham gilt als einer der Väter des Evangelikalismus, als geistliches Vorbild und moralische Autorität.

Die Unterstützung eines Grahams stellte klar: Evangelikale sollten Trump wählen.

Franklin Graham, Jahrgang 1952, leitet die Billy Graham Evangelistic Association. Eigentlich hätte er im vergangenen Jahr in Köln auf einer Großevangelisation predigen sollen. Corona machte einen Strich durch die Rechnung - und es gab lautstarke Proteste gegen ihn wegen umstrittener Äußerungen über Homosexualität Foto: Cornstalker | CC BY-SA 4.0 International
Franklin Graham, Jahrgang 1952, leitet die Billy Graham Evangelistic Association. Eigentlich hätte er im vergangenen Jahr in Köln auf einer Großevangelisation predigen sollen. Corona machte einen Strich durch die Rechnung – und es gab lautstarke Proteste gegen ihn wegen umstrittener Äußerungen über Homosexualität

Tatsächlich wählten 76 Prozent der weißen Evangelikalen 2020 Donald Trump. Doch die Evangelikalen sind tiefer gespalten, als diese Zahlen nahelegen.

Der Riss reicht bis in die Familie Graham hinein.

Billy Grahams Enkelin Jerushah Duford wagte sich schließlich in die Öffentlichkeit und erklärte, warum die evangelikale Unterstützung Trumps das Erbe ihres Großvaters beschädige. „Mein Onkel hat eine sehr andere Persönlichkeit als mein Großvater“, sagt sie im Gespräch mit pro Ende Januar. Es sei für manche in der Familie schon immer schwer gewesen zu sehen, wie er die christlichen Werke seines Vaters übernommen habe. Sein Führungsstil sei anders als der des Großvaters, autoritärer. Von Billy Graham schwärmt sie regelrecht: „Er war einer der demütigsten Menschen, die ich kenne.“ Einmal habe er Kellnern dabei helfen wollen, das Geschirr abzuräumen – da hatte er in Washington, D.C., gerade die Ehrenmedaille des Kongresses erhalten. „So war er. Er hat nie gedacht, dass er wichtiger ist als die, mit denen er zu tun hatte.“

Jerushah Duford schwärmt von ihrem Großvater Billy Graham. Das Verhalten ihres Onkels Franklin sieht sie kritisch – nicht erst seit dessen politischer Äußerungen Foto: privat
Jerushah Duford schwärmt von ihrem Großvater Billy Graham. Das Verhalten ihres Onkels Franklin sieht sie kritisch – nicht erst seit dessen politischer Äußerungen

Billy Graham hatte schon vor Jahrzehnten davor gewarnt, dass Evangelikale sich auf eine einzige Partei oder Person festlegen. In der Titelgeschichte des Parade-Magazins vom Februar 1981 berichtete der Evangelist von einem Gespräch mit dem Prediger Jerry Falwell. Der wollte, dass Graham sich der konservativen politischen Initiative „Moral Majority“ anschließt.

„Ich sagte, er solle das Evangelium predigen. Das ist unsere Berufung. Ich will die Reinheit des Evangeliums und die Religionsfreiheit in Amerika bewahren. Ich will in keiner Form religiöse Bigotterie erleben. (…) Es würde mich stören, wenn es eine Hochzeit zwischen den religiösen Fundamentalisten (damals Sprachgebrauch, gemeint sind konservative Evangelikale, d. Red.) und der politischen Rechten geben würde. Die radikale Rechte hat kein Interesse an Religion, außer sie zu manipulieren.“

Billy Graham, 1981

Graham hatte noch offensiv für die Wahl Richard Nixons 1960 gegen John F. Kennedy geworben, was ihm allerdings eine Lehre war. Er versuchte später, überparteilich auf die Politik einzuwirken. Graham, selbst registrierter Demokrat, traf sich mit politischen Führern beider Parteien, mit Carter, Reagan, Clinton, den Bushs und Obama – und betete mit ihnen. Für manchen Präsidenten wurde er zum engen Seelsorger.

Billy Graham (links) mit Nancy und Ronald Reagan im Washington Hilton Hotel am Rande des National Prayer Breakfast, 1981 Foto: White House
Billy Graham (links) mit Nancy und Ronald Reagan im Washington Hilton Hotel am Rande des National Prayer Breakfast, 1981

2011 bereute Graham in einem Interview von Christianity Today, dass er manchmal zu viel politischen Einfluss genommen habe. „Jetzt würde ich das nicht mehr machen“, sagte er. Trotzdem: Billy Grahams Ruf als nationale Ikone und Seelsorger eines ganzen Volks ist unumstritten – und das lag auch an seiner Überparteilichkeit, auch wenn er sie nicht immer einhielt.

In diese riesigen Fußstapfen ist Franklin Graham getreten, als er die Leitung der „Billy Graham Evangelistic Association“ übernahm. Der Name seines Vaters verlieh ihm Autorität. In Trumps Präsidentschaft entwickelte sich Graham zu einem der treuesten und lautesten Fürsprecher. Kein Trumpscher Skandal änderte etwas daran. 2019 interviewte ihn der Bonhoeffer-Biograph Eric Metaxas. Die Kritik an Trump nannte Graham eine „fast dämonische Kraft“, worauf Metaxas widersprach: Die Kritik sei nicht fast dämonisch. Graham stimmte zu.

Nach dem Sturm aufs Kapitol im Januar 2021 rang sich Graham dann doch noch zu einem Anflug an Kritik am Präsidenten durch: „Ich unterstütze oder vertrete manche Dinge nicht, die der Präsident in den letzten Wochen gesagt und getan hat“, schrieb er auf Facebook. Zugleich verglich er die zehn Republikaner, die für ein Amtsenthebungsverfahren gestimmt hatten, mit Judas Ischariot. Er frage sich, was wohl die „30 Silberlinge“ gewesen seien, die Repräsentantenhaus-Sprecherin Nancy Pelosi ihnen für den „Verrat“ versprochen habe.

Es ist diese martialische Sprache, diese wörtliche Verteufelung jeglicher Kritik, diese bedingungslose Loyalität trotz offensichtlichen Fehlverhaltens, aber auch eine zunehmende Vertiefung der politischen Gräben, die die USA in den letzten vier Jahren immer tiefer gespalten haben.

Der neue Präsident Joe Biden steht daher vor einer riesigen Aufgabe: Das Land wieder zu einen. Die Hoffnungen sind groß. Sein Alter, oft als Nachteil genannt, könnte sich dabei als Vorteil erweisen. Der 78-Jährige könnte als eine Art Großvater der Nation mit einer moderaten Politik erreichen, dass beide Seiten wenigstens wieder einander respektvoll zuhören. Seine Antrittsrede war gespickt mit christlichen Andeutungen, immer wieder warb er um Einheit, Anstand und Frieden. Die Arme für enttäuschte Trump-Fans sind offen, sagte er damit.

Trump und die „Früchte des Geistes“

Jerushah Duford kann es sogar verstehen, wenn prominente Evangelikale Trump unterstützten. Aber sie wünschte sich, dass sie wenigstens differenzierten und sagten: „Trump ist ein Betrüger und Lügner, er ist gemein und macht sich über behinderte Menschen lustig. Das hasse ich. Allerdings vertritt er in wichtigen Fragen einige meiner Positionen, deswegen unterstütze ich ihn.“ Billy Graham, ihr Großvater, starb 2018. Sein Sarg wurde im Kapitol aufgebahrt, eine Ehre, die nur drei Privatleuten vor ihm zuteil geworden war. Die Trauerfeierlichkeiten in der Familie dauerten eine Woche. Mehrere Verwandte, so berichtet es Jerushah Duford, nahmen sie beiseite, um ihr für ihren öffentlichen Widerspruch gegen ihren Onkel zu danken. Gerade die Frauen hätten ein Unbehagen im Herzen gespürt.

Ohne Zweifel hat Trump in seiner Amtszeit einiges getan, was Evangelikalen besonders gefiel: Er setzte viele konservative Bundesrichter und mehrere Richter am Supreme Court ein, die eine konservative Haltung in Sachen Abtreibung vertreten. Er verlegte die Botschaft in Israel nach Jerusalem. Seine Administration vermittelte mehrere Normalisierungen zwischen Israel und einigen arabischen Ländern.

Aber wiegt das die vielen Eskapaden des Präsidenten, die Stimmungsmache gegen Migranten und Angehörige anderer Religionen auf? Sie wolle nicht beurteilen, ob jemand Christ sei oder nicht, sagt Duford. Aber die Bibel zeige, ob ein Mensch „im Geist wandelt“, sagt sie, und nennt die „Früchte des Geistes“ aus dem Galaterbrief: „Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Sanftmut, Keuschheit. Auf dieser Grundlage wäre es sehr schwer zu sagen, dass Trump im Geist wandelt.“

Wenn einer wie Trump öffentlich von Frommen gestützt, gar als von Gott gesandt tituliert wird, welches Licht wirft das auf die Evangelikalen?

„Die Unterstützung Trumps hat den weißen Evangelikalen einen unvorstellbaren Imageschaden zugefügt“, sagt Philip Gorski, Soziologe an der renommierten Yale University. Gorski ist einer der profiliertesten Analysten des Verhältnisses zwischen Christen und der Washingtoner Politik. pro interviewte ihn im Video-Chat. Er ist selbst kein Evangelikaler, hatte aber schon immer Freunde aus dem Milieu.

Gorski ist es wichtig, zu differenzieren. Wenn er über die evangelikale Unterstützung Trumps spricht, dann legt er Wert darauf, dass er fast ausschließlich über die weißen Evangelikalen spricht. „Das ist ganz, ganz wichtig.“ Tatsächlich seien gerade deutsche Medien oft ungenau, wenn sie über „die Evangelikalen“ berichteten, die Trump unterstützten. Umfragen legen vor allem nahe, dass eine Trennlinie zwischen weißen und schwarzen Christen entlangläuft – und nicht entlang der Konfessionen.

Der Soziologe Philip Gorski Foto: Philip Gorski
Der Soziologe Philip Gorski

Gorski nennt den schwarzen Demokraten Raphael Warnock, der in der Stichwahl in Georgia jüngst einen Senatssitz gewonnen hat: „Ein Baptistenpastor aus Atlanta, der weißen Evangelikalen theologisch in großem Maße entspricht.“ Schwarze Evangelikale, schätzt Gorski, wählen traditionell zu über 90 Prozent den demokratischen Kandidaten. Was in Medien oft unerwähnt bleibt: Selbst die weißen Mainstream-Protestanten und weißen Katholiken favorisierten mehrheitlich Trump, wenn auch nicht in so hohem Maße wie die weißen Evangelikalen.

Der demokratische Senator Raphael Warnock nach seiner Vereidigung am 22. Januar 2021 Foto: Raphael Warnock/Twitter
Der demokratische Senator Raphael Warnock nach seiner Vereidigung am 22. Januar 2021

Dass Letzere heute so stark den Republikanern zuneigen, war nicht immer so. „Im Jahr 1920 wäre ein weißer Baptist aus dem Süden in wirtschaftlichen Ansichten eher progressiv gewesen – und auf jeden Fall Demokrat und kein Republikaner.“ Es habe immer Evangelikale gegeben, die sich für soziale Belange eingesetzt hätten. „Die Geschichte der großen Reformbewegungen in den USA, der Abolitionismus (Kampf gegen Sklaverei, d. Red.) oder die Bürgerrechtsbewegung kann man nicht verstehen, ohne die Mitwirkung vieler überzeugter evangelikaler Christen in den Blick zu nehmen.“

Ein schwarzer Trump wäre nicht gewählt worden

Wenn man die Wahlergebnisse von 1908 mit denen von 2008 vergleiche, zeige sich ein fast komplett gegensätzliches Bild: Was damals blau und demokratisch gewesen sei, sei jetzt rot und republikanisch und umgekehrt. Den zentralen Grund dafür sieht Gorski in der Bürgerrechtsbewegung und der Gegenreaktion in den Südstaaten, die bis dato demokratisch gestimmt hatten.

„In Umfragen unter weißen Evangelikalen rangiert der Lebensschutz etwa auf Platz zehn.“

„Die republikanische Partei hat es seit Nixon geschafft, durch manchmal offene, manchmal subtile rassistische Appelle, die weißen Wähler aus den Südstaaten für sich zu gewinnen.“ Das ist die entscheidende These Gorskis: Nicht theo­logische Differenzen und sich daraus ergebende andere politische Ansichten hätten die weißen Evangelikalen an die Republikaner – und damit an Trump – gebunden, sondern der weiße Nationalismus.

Das widerspricht dem regelmäßig wiederholten Motiv, die Evangelikalen hätten Trump vor allem wegen dessen Haltung zu Abtreibung, wenn auch zähneknirschend, gewählt. „Die Sozialforschung hat klar belegt, dass Abtreibung zwar immer als Argument Nummer 1 vermutet wird, aber unter den meisten weißen Evangelikalen gar nicht die höchste Priorität hat“, sagt Gorski. „In Umfragen rangiert der Lebensschutz etwa auf Platz zehn, weit hinter dem Thema Einwanderung oder Recht und Ordnung.“ Dahinter stehe ein Idealbild von nationaler Einheit, Reinheit, Leitkultur und Traditionen, „wobei ‚Traditionen‘ die weiße Kultur meint“. Was, wenn Trump schwarz wäre? Dann wäre er nicht gewählt worden, ist sich Gorski sicher.

Jerushah Duford stimmt dem Soziologen zu: „In vielen Fällen geht es um beides: eine Lebensschutz-Agenda, aber auch um weißen christlichen Nationalismus, der sich hinter dieser Agenda versteckt. Wenn die Leute hören ‚Macht Amerika wieder großartig‘, dann verstehen sie: ‚Macht Amerika wieder weiß und reich.‘“

In diesem Zusammenhang erscheint das wohl berühmteste Foto des Präsidenten in einem bizarren Licht. Am 1. Juni 2020 demonstrierten Black-Lives-Matter-Aktivisten in Washington, D.C., gegen Rassismus in der Strafverfolgung, am Rande gab es auch Ausschreitungen. Donald Trump wies Sicherheitskräfte an, ihm einen Weg zu bahnen, damit er vom Weißen Haus zur Kirche St. John’s gehen konnte. Dabei kam unter anderem Tränengas gegen die friedlichen Demonstranten zum Einsatz.

Trumps Ziel: ein Foto mit Signalwirkung.

Vor der Kirche schaute er ernst in die Kameras und hielt eine Bibel in die Höhe. Man kann Trump viel Inkompetenz vorwerfen, aber eines nicht: Dass er nicht wüsste, welche Wirkung Bilder haben. Mit dem Bibelfoto zog Trump eine Linie, wo eigentlich keine sein dürfte, nämlich zwischen dem Einsatz gegen Rassismus – und dem Glauben an Jesus Christus. Die Bibel und die Kirche als Symbole der Macht, als religiös-politisches Bollwerk gegen aufmüpfige Antirassisten, das war die Botschaft.

Trump vor der St. John's Episcopal Church während der Black-Lives-Matter-Proteste Foto: The White House
Trump vor der St. John’s Episcopal Church während der Black-Lives-Matter-Proteste

Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass Donald Trump in Sachen Abtreibung die Wünsche vieler Evangelikaler erfüllte. Jerushah Duford hat im Wahlkampf für Biden geworben, zusammen mit dem „Lincoln Project“, einer Initiative enttäuschter Republikaner. „Ich bin eine Lebensschützerin“, sagt sie. Und sie versteht das vollumfänglich: vom Mutterleib bis zum Grab, „from womb to tomb“, unabhängig von der Hautfarbe.

Lebensschutz „from womb to tomb“

Wer wirklich Lebensschützer sei, dem könne es nicht egal sein, wenn Frauen gezwungen würden, ihre Kinder zu gebären, ohne dass sie sie ernähren könnten oder wenn Kinder an der mexikanischen Grenze von ihren Eltern getrennt würden. Duford selbst hat in zehn Jahren sieben Pflegekinder betreut, als sich deren Mütter nicht um sie kümmern konnten. Sie hat zwei leibliche Kinder, ein schwarzes Mädchen hat sie im Alter von sieben Jahren adoptiert.

„Beim Lebensschutz geht es auch darum, etwas gegen Armut zu unternehmen und ihnen eine gute Gesundheitsversorgung zu bieten. Wenn man das tut, gehen auch die Abtreibungszahlen zurück.“

Diese Haltung hat sich bei weißen Evangelikalen allerdings noch nicht durchgesetzt. Evangelikale Prominente haben weiter viel Einfluss. Der Soziologe Gorski differenziert aber auch hier. Die meisten von ihnen seien nicht allein Pastoren, sondern sie unterhielten meist auch noch eine Art Unternehmertum. Neben Franklin Graham sei Paula White ein gutes Beispiel dafür. Sie hat Trump jahrelang beraten und offensiv für ihn geworben. White vertritt ein Wohlstandsevangelium: Wer genug glaubt und spendet, wird reich und bleibt gesund.

In einer Predigt verkündete sie: „Wo auch immer ich hingehe, dort regiert Gott. Wenn ich zum Weißen Haus gehe, geht Gott dort hin. Ich habe die Autorität zu sagen: Das Weiße Haus ist heiliger Boden, denn ich stand dort. Wo ich stehe, ist heiliger Boden.“

Mit Evangelikalismus hat das wenig zu tun, trotzdem wurde sie gerade für diese Klientel von Trump eingesetzt. „Es sind fast Geschäftsleute, keine Seelsorger“, fasst Gorski zusammen.

Dazu gehört auch der Radiomoderator und erfolgreiche Buchautor Eric Metaxas. Einst ein gefeierter Intellektueller, unterstützt er Trump nun bedingungslos. Er veröffentlichte sogar Comichefte mit „Donald“ als Held.

Am 28. August 2020 wurde er handgreiflich, als er nach der Rede des Präsidenten am republikanischen Parteitag einen grölenden Protestler vom Fahrrad boxte, wie ein Video zeigt. Sein Publikum ist ihm trotzdem sicher. Graham, White und Metaxas eint, dass sie große Plattformen und Reichweiten haben, um für Trump zu werben. Für die ganze Bewegung sprechen sie allerdings nicht.

Amerikanische evangelische Allianz: Klares Statement gegen Rassismus

„Es gibt innerhalb der Evangelikalen große Meinungsunterschiede in Sachen Politik, das kommt in den Medien allerdings nicht oft vor“, sagt Gorski. Das zeigt etwa die „National Association of Evangelicals“ (NAE), die amerikanische Entsprechung zur Deutschen Evangelischen Allianz.

Einen Tag nach den Kapitol-Unruhen, am 7. Januar, veröffentlichte die NAE eine Erklärung, die deutlicher nicht sein könnte: „Der Mob vor dem Kapitol wurde provoziert von Führungspersonen, einschließlich Präsident Trump, die Lügen und Verschwörungstheorien für politische Ziele eingesetzt haben. Evangelikale sind Menschen, die der Wahrheit verpflichtet sind und Unwahrheiten verwerfen sollten.“ Der Mob sei eine „schmerzhafte Mahnung des Rassismus’, der unser Land plagt“.

Zur NAE gehören 40 Denominationen und 40.000 Kirchengemeinden. Der Kampf gegen weißes Überlegenheitsdenken und Rassismus gehört fest zu ihren gesellschaftlichen Positionen. Sie vertritt viele nicht-weiße Amerikaner, auch ihr derzeitiger Vorsitzender Walter Kim zählt dazu. Anders als ihre deutsche Entsprechung repräsentiert sie nicht alle Evangelikalen, sondern ungefähr 40 Prozent von ihnen. Trotzdem: Damit ist die politisch sehr breit aufgestellte NAE viel repräsentativer als die vielzitierten Einzelstimmen, die eine breite Unterstützung Trumps nahelegen.

Die große Southern Baptist Convention (SBC) gehört nicht zur NAE. Sie gilt als besonders konservativ, doch auch hier gibt es starke Stimmen gegen Trump. Eine ihrer wichtigsten: Russell Moore. Der Chefethiker der SBC spricht als Lobbyist für die südlichen Baptisten in Washington. Der Theologe gehört zu den „Never-Trumpers“, den Konservativen, die vor einer Unterstützung des Immobilienmoguls gewarnt hatten. Theologisch ist er stark konservativ, politisch wirbt er jedoch für Überparteilichkeit. Schon 2016 attackierte Moore Trump heftig als „schrecklichen Kandidaten“, kritisierte die Unterstützung der „alten Garde des religiös-rechten Establishments“ trotz Trumps „ernster moralischer Probleme“. Nach dem Sturm aufs Kapitol forderte Moore den Rücktritt des Präsidenten. Auch der konservative Baptist John Piper äußerte sich Wochen vor der Wahl höchst kritisch gegenüber Trump und erklärte, er werde weder Trump noch Biden wählen.

Als Joe Biden seinen Amtseid abgelegt hatte, spürte Jerushah Duford eine große Erleichterung. „Ich dachte: Der Albtraum ist endlich vorbei. Es war, als würde die ganze Welt aufatmen.“ Biden mache nichts besser, als jeder andere Politiker es tun solle. Aber: „Wir haben gehungert nach Anstand. Deswegen fühlt sich das jetzt sehr, sehr gut an.“ Eine der ersten Amtshandlung des neuen Präsidenten war ein Bekenntnis zum Recht auf Abtreibung. Er werde dafür sorgen, dass Richter eingesetzt werden, die dies ebenfalls anerkennen. Genau davor hatte Trump seine Anhänger gewarnt. „Und nun fühlen sich manche Evangelikale bestätigt“, sagt Duford.

Pence brach mit Trump – und die weißen Evangelikalen?

„Es würde mich nicht wundern, wenn die evangelikale Welt politisch auseinanderbricht“, sagt der Soziologe Gorski. Er sieht nur eine Möglichkeit, wie sich Evangelikale insgesamt vom Trumpismus lösen können: „Es muss die Einsicht kommen, dass man die pluralistische Gesellschaft akzeptiert.“ Zwar sei die Unterstützung Trumps auch unter weißen Evangelikalen kurz vor dessen Ausscheiden gesunken, allerdings nur um etwa zehn Prozentpunkte.

Vizepräsident Mike Pence jedenfalls hat mit Trump wohl gebrochen. Er kam nicht zu dessen Verabschiedung, stattdessen besuchte er – wie es sich gehört – die Amtseinführung Bidens, der Trump entgegen der Tradition der friedlichen Machtübergabe fernblieb. Als Pence zu Hause in Indiana ankam, dankte er Anhängern, seiner Familie und seinem „Herrn und Retter Jesus Christus“ für die Unterstützung der vergangenen Jahre. Auch seinem Präsidenten dankte er.

Vielleicht nur aus Anstand.

Von: Nicolai Franz

Dieses Interview erschien in der Ausgabe 1/2021 des Christlichen Medienmagazins pro. Das Heft können Sie kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 0 64 41 / 5 66 77 00.

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