Jahrelang habe ich mich als evangelikal bezeichnet. Obwohl ich nicht zum Profil des Durchschnittsevangelikalen, einer Unterkategorie protestantischer Christen, passe, nach einer Studie, die das Pew-Research-Institut jüngst veröffentlicht hat. Ich lebe in Connecticut. Ich habe bereits Demokraten und Republikaner gewählt. Ich habe einen Master-Studienabschluss, genauso wie mein Mann, und unser Einkommen ist höher als das der meisten Evangelikalen. Aber ich passe hinsichtlich vieler Verhaltens- und Glaubensmuster zu den Evangelikalen. Ich lese in der Bibel und bete regelmäßig. Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Unsere Familie geht zur Kirche.
In der Vergangenheit habe ich den Begriff „evangelikal“ wegen seiner wörtlichen Bedeutung sehr geschätzt. Ursprünglich kommt er vom griechischen „euangelion“, was „frohe Botschaft“ bedeutet. Etymologisch gesehen ist ein Evangelikaler also jemand, der die frohe Botschaft verbreitet. Das gefällt mir.
Christen diskutieren seit Jahrzehnten darüber, ob das Etikett sinnvoll ist, und die Kritik und Bedenken haben seit der Präsidentschaftswahl deutlich zugenommen. Kürzlich hat der Theologe und Autor Scot McKnight die Abschaffung des Begriffs „evangelikal“ gefordert und er hat aufgezeigt, wie es dazu gekommen ist, dass das Konzept zunehmend mit republikanischer Politik in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich haben 80 Prozent der Weißen, die sich selbst als evangelikal bezeichnen, bei der Präsidentschaftswahl 2016 für Donald Trump gestimmt. Und die Gruppe unterstützt den Präsidenten immer noch sehr stark.
Evangelikal = weißer Republikaner
Neben der Tatsache, dass der Begriff politisiert wurde, beschreibt „evangelikal“ eine vorwiegend weiße Bevölkerungsgruppe. Der Hip-Hop-Künstler Lecrae hat jüngst erklärt, warum er sich als schwarzer Christ etablieren will und wie seine Entscheidung Zurückweisung durch weiße Evangelikale zur Folge hatte. „Evangelikal“ bedeutet inzwischen für viele Menschen „weißer Republikaner“, nicht mehr „Überbringer der frohen Botschaft“.
Derweil viele Einzelpersonen und Gruppen, die sich in der Vergangenheit als evangelikal bezeichnet haben, dies nach wie vor tun, obwohl sie damit keine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder politischen Partei zum Ausdruck bringen wollen, haben sich andere dafür entschieden, das Etikett abzulegen. „Princeton Evangelical Fellowship“, eine Organisation mit 80-jähriger Geschichte auf dem Campus der Princeton Universität, hat sich beispielsweise kürzlich in „Princeton Christian Fellowship“ umbenannt. Bill Boyce, Präsident der Organisation, erklärte der Campus-Zeitung „Daily Princetonian“: „Es mag der Eindruck vorherrschen, dass alle Evangelikalen Republikaner sind. … Wir legen Wert darauf, über unseren Glauben und unser daraus resultierendes Engagement definiert zu werden und nicht über irgendeine politische Agenda.“
Suche nach der religiösen Identität
Was sollten nun Menschen wie ich, die wir unser Christsein immer als evangelikal betrachtet haben, aber unsere religiöse Identität nicht mit einer politischen oder rassischen Identität verknüpfen möchten, tun?
Richard Mouw, ehemaliger Präsident des theologischen Seminars „Fuller“ und bekennender Evangelikaler, verteidigt den Ausdruck mit zwei Argumenten: Zum einen impliziere der Begriff historisch betrachtet die Zugehörigkeit zum Glauben an „Jesus als persönlichen Retter, und ein Bekenntnis zur Bibel als höchster Autorität.“
Zum anderen argumentiert er, dass Evangelikale in Amerika verbunden seien mit einer „weltweiten Bewegung und vielen Führenden auf der Südhalbkugel, die durch das Engagement evangelikaler Missionare zum Glauben gekommen seien. … Sie haben das Etikett ‚evangelikal‘ nicht abgeschafft und ich möchte mich mit ihnen identifizieren.“ Mouw kritisiert die Politisierung des Begriffs, aber sein Bestreben, seine historische, globale und theologische Bedeutung zu bewahren, führt dazu, dass er keinen Widerstand gegen die Politisierung des Wortes von innen heraus anstrebt.
Andere Christen haben sich dazu entschlossen, das Etikett „evangelikal“ abzulegen und bezeichnen sich nun anders. „Red Letter“-Christen (amerikanische Gruppe von Christen, die sich besonders für soziale und gesellschaftspolitische Belange einsetzt, Anm. d. Übersetzerin), orthodoxe Christen, bekennende Christen, progressive Christen – bei all diesen Gruppen gibt es Überschneidungen zum ursprünglichen theologischen Bekenntnis der Evangelikalen, aber sie alle sind auch bemüht, sich von den Evangelikalen zu unterscheiden.
McKnight beendet seine jüngste Äußerung zum Thema mit der klaren Ablehnung einer Politisierung des Glaubens und erklärt: „Lasst uns uns einfach Christen nennen.“
Die ersten Jesus-Nachfolger nannten sich Christen, Jahre nachdem Jesus gekreuzigt worden und von den Toten auferstanden ist. Und obwohl der Begriff „Christ“ im Laufe der Jahre schon für vieles herhalten musste, bedeutet er letztlich „zu Christus gehören“. Christen sind diejenigen, die sich mit dem, was Jesus getan und gelehrt hat, identifizieren möchten. Christen sind diejenigen, die sich untereinander als diejenigen begegnen möchten, die Jesus nachfolgen wollen.
Abgrenzende Begrifflichkeiten ablegen
Der Begriff „evangelikal“ wurde politisiert. Er beinhaltet dennoch eine reiche Geschichte, in der Evangelikale sich von Fundamentalisten des zwanzigsten Jahrhunderts distanzieren und gleichzeitig ihr Bekenntnis zu einem traditionellen Verständnis zur Autorität der Bibel und zur Rettung durch Jesus im Gegensatz zu theologisch liberaleren Kirchen zum Ausdruck bringen wollten.
Aber die jüngsten Debatten über den Begriff haben mich nicht nur dazu gebracht aufzuhören, das Etikett auf mich anzuwenden. Sie haben mich vor allem überzeugt, mich nicht von anderen Christen, die sich kein spezielles Etikett angeheftet haben, abzugrenzen.
Ob „evangelikal“, „moderat“, „liberal“ oder „konservativ“: Die Adjektive, die wir verwenden, um unseren Glauben zu beschreiben, haben uns stärker voneinander getrennt, als dass sie uns definiert hätten. Amerikanische Christen sind eher zu Splittergruppen verkommen als eine bunte und vielfältige Bewegung von Menschen zu sein, die Jesus kennt und ihm folgen will, und die die frohe Botschaft auf ihre jeweils unterschiedliche Art in eine krankende Welt tragen möchte. Unsere Etiketten zerstückeln uns in kleine Grüppchen und trennen uns von der Fülle dessen, was die ganze Kirche zu bieten hat.
Ja, einige Christen legen ihren Glaubensschwerpunkt auf gesellschaftspolitisches Engagement, andere auf intensives Gebet, wieder andere reden unheimlich viel über Jesus, andere tun Gutes, einige lesen sehr viel in der Bibel und andere versuchen einen makellosen Lebensstil zu pflegen.
Ja, bei denjenigen, die sich gesellschaftspolitisch engagieren, ist das Gebet zuweilen zu kurz gekommen; die Beter haben es manchmal versäumt, den Hungrigen Essen zu geben. Und einige Leute, die gut Zeugnis über ihren eigenen Glauben ablegen können, haben es versäumt, sich für mehr Gerechtigkeit einzusetzen; und einige von denen, denen die Nächstenliebe besonders wichtig ist, haben darüber vergessen, selbst mal wieder in der Bibel zu lesen.
Aber anstatt diese Unterschiede als Gründe für Kritik untereinander und als Anlass, uns von den anderen abzugrenzen, zu verstehen, lassen sie sich auch als Chancen voneinander zu lernen begreifen. Als Möglichkeiten, sich über unsere Unterschiede zu freuen, anzuerkennen, was jeder geben und was wir untereinander teilen können.
Einfach Christen
Ich bin immer wieder versucht meine christlichen Freunde mit Adjektiven wie „liberal“, „progressiv“, „orthodox“, „konservativ“ oder „evangelikal“ zu beschreiben. Immer noch bin ich versucht den Glauben anderer Menschen danach zu beurteilen, was nach meinen eigenen Vorstellungen Christlichkeit ausmacht. Aber wenn ich innehalte und frage, wie Gottes Taten im Glauben der anderen jeweils zum Ausdruck kommen – wenn ich innehalte und darüber nachdenke, wie sich die unendliche Liebe Gottes in und durch unzählige Menschen ausdrückt, Menschen wie mich selbst: Menschen, die die Sache mit dem Glauben oft falsch verstehen, Menschen, die es zwar richtig verstehen und sich trotzdem nicht danach richten, Menschen, die ganz oft Sünden begehen und trotzdem von Gott geliebt werden und die Gott immer wieder einlädt, für ihn in der Welt aktiv zu sein – ja, wenn ich darüber nachdenke, dann beginne ich zu glauben, dass wir alle Christen sind.
Jung oder alt, reich oder arm, schwarz oder weiß, liberal oder konservativ – Christen eben. So einfach. Ein besonders Etikett ist unnötig.
Dieser Beitrag von Amy Julia Becker ist zuerst in der Washington Post erschienen. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung. Becker hat als Autorin die Bücher „Small Talk“ und „A Good and Perfect Gift“ geschrieben.
Von: Amy Julia Becker