Drei Darsteller spielen gleichzeitig verschiedene Persönlichkeiten Martin Luthers im Bühnenstück „Luther – Der Anschlag“. Geplant waren ursprünglich sogar vier Schauspieler, um Luthers biografische Facetten darzustellen. Aber am vergangenen Mittwoch war es bei den Bad Hersfelder Festspielen zu einem Eklat gekommen. Der als Luther-Darsteller eingeplante Paulus Manker vom Wiener Burgtheater verkrachte sich in der Probe vor der Uraufführung mit Regisseur Dieter Wedel. Manker hätte Luther als Wutbürger darstellen sollen. Die Aufgabe kam dann dem Schauspieler Christian Nickel zu, der im Stück bereits Luther als Reformator darstellt. Nicht nur deshalb war es eine denkwürdige Weltpremiere in der Stiftsruine, die als größte romanische Kirchenruine der Welt gilt.
Schon der Titel des dreistündigen Stücks kann als Provokation verstanden werden. Heute liegt bei dem Wort „Anschlag“ die Assoziation zum Terrorismus näher als zum Thesenanschlag an die Schlosskirche in Wittenberg. Damit spielen Regisseur Wedel und die beiden Dramaturgen Hans-Joachim Ruckhäberle und Michael Propfe bewusst. So finden sich vor dem eigentlichen Stück Bilder aus Kriegsgebieten wie Syrien, die auf zwei großen Bildschirmen am Bühnenrand laufen. Der Tagesschau-Sprecher Jan Hofer bringt die Bilder im Off-Text mit „religiösem Wahn“ in Verbindung.
Teufel in roten Pumps
„Luther – Der Anschlag“ hat acht Kapitel. Immer thront auf der Bühne im Hintergrund ein großes Kreuz, das mal nächtlich blau, goldgelb oder gar nicht angestrahlt ist. Das Stück von Wedel, der in den 1990er-Jahren TV-Straßenfeger wie „Der Schattenmann“ inszenierte und jetzt Intendant der Bad Hersfelder Festspiele ist, wirft Schlaglichter auf die unterschiedlichen Lebensstationen des Reformators. Das zweite Kapitel, „Das schwarze Kloster“, das um Luthers Zeit im Augustinerkloster in Erfurt kreist, durchleuchtet etwa seine junge Psyche.
Der Teufel sucht Luther in Person einer jungen Frau (Corinna Pohlmann) heim, die ein rotes Abendkleid trägt und unentwegt raucht. Bei ihrem ersten Auftritt steigt sie lasziv aus einer Luke im Bühnenboden. „Du hast dich eingegraben in meinen Unterleib“, schreit der überforderte Luther, der mit dem Teufel auf der Bühne ringt und der Selbstbefriedigung entsagt. Die Erkenntnis zu Gottes Gnade kommt Luther auf dem Donnerbalken. So, wie das Stück überhaupt eine eigenartige Faszination mit Luthers Verdauung pflegt.
Luther trifft seinen Vater (Joern Hinkel). „Wo ist deine Freude?“, hinterfragt der die Entscheidung Luthers, ins Kloster gegangen zu sein. Während Maximilian Pulst als Luther im Zentrum der Bühne mit dem Vater agiert, kniet auf einem abseits am Boden liegenden Kreuz Janina Stopper. Auch sie ist Luther. Genau genommen spiegelt die zierliche Schauspielerin mit der aufgeklebten Tonsur die reinen Emotionen Luthers, etwa Angst oder Verzweiflung. Stoppers größtenteils pantomimische Luther-Interpretation hat die Aufgabe, als Übersetzerin der Gefühle zu dienen und gleichzeitig die Emotionen der anderen beiden Luther-Darsteller visuell zu verstärken.
Starke Kritik an der Katholischen Kirche
So sehr sich das Stück auch kritisch mit Luther auseinandersetzt: Die Katholische Kirche trifft es häufiger und härter. Das fängt mit dem Dominikaner Johann Tetzel (Claude-Oliver Rudolph) an, der seinen Ablasshandel aus einem Papamobil heraus betreibt und von Anzugträgern mit Sonnenbrillen begleitet wird. Kardinal Cajetan (toll: Robert Joseph Bartl) schlemmt am Buffet und beklagt sich über Luther: „Kannst du nicht mal mit dieser Rechthaberei aufhören!“
Papst Leo X. (Erol Sander) hat Reitstiefel an, vergnügt sich in einer Badekabine und wirkt mit seinen Assistenten, die totes Getier umgehängt haben, eher wie ein Großwildjäger denn als Oberhaupt der Katholischen Kirche. Die erscheint im Austausch mit dem Fugger-Vertreter Johannes Zink (Rudolf Krause) wie ein Wirtschaftsunternehmen, in dem der Glaube nur noch eine gewinnbringende Funktion erfüllt.
Luther verprügelt Wachen mit jüdisch klingenden Namen
Regisseur Wedel wollte auch die negativen Seiten Luthers wie seine Obrigkeitshörigkeit, den Judenhass und Rassismus zeigen, sagte er in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Wenn Luther im Stück die Bevölkerung dazu aufruft, fortan auf Deutsch zu singen, zeigen die Videowände Naziaufmärsche. Im Kapitel, wo Luther das erste Mal als Wutbürger auftritt, sieht der Zuschauer auf den Bildschirmen einen Reichsbürger, der seinen Personalausweis verbrennt. Luther hält im Stück eine längere Hasstirade auf die Juden, greift Wachen, die ihn auf der Wartburg beschützen, an, nur weil sie einen jüdisch klingenden Namen haben. Im späteren Verlauf trägt Luther einen Militärmantel und einen Sturmhelm.
Die Inszenierung des Stückes ist vor allem eine spektakuläre Bühnenshow geworden. Am eindrucksvollsten ist sicherlich der Reichstag zu Worms aus dem Jahr 1521 geglückt. Die ganze Tiefe der Bühne wird eingesetzt, um die Machtkonstellation zwischen Kaiser Karl V. und den Vertretern der Katholischen Kirche zu beschreiben. Karl V. sitzt schweigend in seinem prunkvollen Thron. Zwei Bühnenflügel sind hochgeklappt. Auf den künstlichen Podesten stehen schwer bewaffnete Sicherheitskräfte mit Sturmgewehren, die dem Zuschauer den Rücken zugedreht haben. Später stehen an diesen erhöhten Positionen der Kardinal und Johann Tetzel, die das Wort führen und über Luthers Schicksal richten.
Konzept verleiht Luther-Figur Lebendigkeit
„Luther – Der Anschlag“ überfordert den Zuschauer: Das gilt für seine Länge von drei Stunden, das zahlreiche Bühnenpersonal, aber auch die ständige Bewegung, die auf der Bühne durch Darsteller und Statisten und in der Luft wirbelnde Flugblätter herrscht. Ständig sucht die Inszenierung Berührungspunkte zur gegenwärtigeren Geschichte, zieht in Dialogen oder Videoausschnitten Vergleiche zum Dritten Reich oder den 68er-Protesten. Wedel leistet sich sogar eine weniger geglückte Metaebene: In boulevardesken Einspielern über Martin Luther berichtet die Brisant-Moderatorin Mareile Höppner „live“ vom Geschehen vor Ort. Insgesamt ist es aber eine gute Form der Überforderung, weil die Assoziationsketten die eigenen Gedanken in Bewegung bringen.
Luther von drei unterschiedlichen Darstellern spielen zu lassen, die teils gleichzeitig auf der Bühne agieren, ist ein Coup. Das Konzept verleiht der Figur eine Lebendigkeit und Dreidimensionalität. Auch die Lebensstationen Luthers erscheinen dadurch plastischer vor dem inneren Auge. „Ich, Martin Luther, habe alle Bauern totschlagen lassen“, sagen einmal alle drei Luther-Darsteller gleichzeitig in einem Videoausschnitt, bei dem sich die Gesichter von Nickel, Stopper und Pulst in einer Überblende ineinander auflösen und zu einem werden.
„Luther – Der Anschlag“ ist ein Kraftakt für alle Beteiligten, wie auch die Zuschauer. Aber das Stück schafft etwas, was im 500. Jubiläumsjahr der Reformation für Kunstwerke nicht selbstverständlich ist: Es macht Lust, sich aufs Neue mit Luther zu beschäftigen. (pro)
Vom 23. Juni bis 20. August läuft das Bühnenstück „Luther – Der Anschlag“ bei den Bad Hersfelder Festspielen in der Stiftsruine. Zu einzelnen Vorführungen sind noch Restkarten verfügbar.
Von: mm