Wie konnte es nur zu einem derartigen Lebenslauf kommen? Die am 15. August 1940 in Bartholomä geborene und später in Tuttlingen und Stuttgart aufgewachsene Gudrun Ensslin ist als Kind und Jugendliche auf geradezu vorbildliche Weise christlich sozialisiert. In der Schule fällt sie durch soziales Engagement auf. In der Kirchengemeinde ihrer Eltern ist sie in der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Sie hält Andachten und zieht mit ihrer Teenager-Gruppe in den Ferien wandernd und musizierend durchs Land.
Nachdem sie im März 1960 erfolgreich das Abitur bestanden hat, studiert Ensslin in Tübingen Germanistik, Anglistik und Philosophie. Die ersten drei Semester sei seine Tochter noch sehr brav gewesen, urteilt später ihr Vater. Und ihre Mutter erinnert sich, dass bis zu ihrem 22. Lebensjahr auf ihrem Nachttisch immer noch die „Bibelrüste“ des Evangelischen Mädchenwerks gelegen habe.
Doch dann kommt es im Leben der Studentin zu einem dramatischen Bruch: Im Wintersemester 1961/62 lernt sie den Germanistik-Studenten Bernward Vesper kennen, Sohn des Nazidichters Will Vesper. Die beiden verlieben sich. Die sexuelle Befreiung, die in jener Zeit zunächst vor allem im studentischen Milieu Einzug gehalten hat, erfasst durch den promiskuitiven Bernward auch die schwäbische Pfarrerstochter. Ihr literarisch verschlüsseltes Tagebuch aus jener Zeit deutet an, wie sehr sie sexuell von ihrem Freund abhängig gewesen sein muss und sich – trotz aller proklamierten „neuen Moral“ – verletzt gefühlt zu haben scheint durch das ständige Fremdgehen ihres Freundes, den sie als intellektuelle Größe bewundert.
Im Herbst 1964 ziehen Ensslin und Vesper nach Berlin. Hier wollen sie an der Freien Universität ihr Studium fortsetzen. Gleichzeitig werden sie immer mehr politisch aktiv. Während des Bundestagswahlkampfs 1965 engagieren sie sich als Wahlkampfhelfer für Willy Brandt und die SPD. Als im darauffolgenden Jahr die SPD mit der CDU eine Große Koalition eingeht, sind sie zutiefst empört. Gesellschaftlichen Wandel erwarten sie von den etablierten Parteien nicht.
„Unerträgliches christliches Reden“
Am 2. Juni 1967 wird auf einer Demonstration gegen den Besuch des iranischen Schahs der Student Benno Ohnesorg von der Kugel eines Polizisten tödlich verletzt. Ensslin schließt sich daraufhin einer politischen Aktionsgruppe an und nimmt an zahlreichen Protestaktionen teil. In der Gruppe taucht eines Tages auch Andreas Baader auf, ein bereits mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geratener junger Mann von charismatischer Ausstrahlung. Er plädiert für radikale, gewalttätige Aktionen. Ensslin fährt auf den großspurigen, anarchistischen Typen voll ab. Endlich jemand, der nicht nur diskutiert und harmlose Happenings plant! Sondern einer, der bereit ist, auch etwas zu wagen. Schon bald werden sie ein schier unzertrennliches Paar.
Ensslin, die ihren Eltern immer wieder vorwirft, durch ihre Passivität in der Nazi-zeit „versagt“ zu haben, setzt nun mit ihrem neuen Freund und zwei weiteren Komplizen ein (Brand-)Zeichen. In der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 explodieren in zwei Frankfurter Kaufhäusern mehrere von ihnen gelegte Brandsätze. Das Ganze soll als Protest verstanden werden gegen die kapitalistische Konsumgesellschaft und den von den USA geführten Krieg in Vietnam. Die Täter werden gefasst und kommen in U-Haft. Ensslin lässt eine ehemalige Freundin wissen, dass sie „das christliche Reden nicht mehr ertragen kann“. Und: „Ich hab‘ mich ein für allemal auf die Seite (…) des sich auflehnenden Menschen geschlagen.“
Im Juni 1969 werden die zu drei Jahren Haft verurteilten Brandstifter bis zur Entscheidung über den Revisionsantrag auf freien Fuß gesetzt. Nachdem im November der Bundesgerichtshof eine Revision verworfen hat, geht Ensslin mit Baader in den Untergrund. Sie versuchen eine revolutionäre Zelle aufzubauen, die bald unter dem Namen RAF (Rote Armee Fraktion) auftreten wird. Zu den Verschwörern gesellt sich auch die Journalistin Ulrike Meinhof. Während eines gemeinsamen LSD-Trips soll Ensslin für eine Art von revolutionärem Katechismus plädiert haben. Dieser sollte in der Umkehrung der Zehn Gebote bestehen und damit auch das Töten zum revolutionären Gesetz erheben.
Katastrophales Ende
Mehr und mehr gerät die RAF, die sich das Geld für Waffen und konspirative Wohnungen durch Bankeinbrüche beschafft, in den Fokus des BKA. Bald töten sie zwei Polizisten. Doch so richtig los geht es erst 1972 mit der sogenannten Mai-Offensive der RAF. Durch eine Serie von Sprengstoffanschlägen werden zahlreiche Menschen verletzt oder sterben.
Am 1. Juni 1972 werden Andreas Baader und zwei weitere RAF-Mitglieder festgesetzt. Nur wenige Tage später wird auch Ensslin verhaftet. Im Frühjahr 1974 kommen die RAF-Gefangenen in das neu errichtete Sicherheitsgefängnis in Stuttgart-Stammheim. Wie sehr Ensslin auf Baader eine fast schon messianisch zu nennende revolutionäre Heils- und Ideal-gestalt projiziert, wird aus einem von ihr verfassten Kassiber deutlich. Darin versteigt sie sich zu der Behauptung: „(…) das kollektive bewusstsein, die moral der erniedrigten und beleidigten des metropolenproletariats – das ist andreas. (…) an andreas können wir uns bestimmen, weil er das alte (erpressbar, korrupt usw.) nicht mehr war, sondern das neue: klar, stark, unversöhnlich, entschlossen. (sic!)“
Mehrmals versucht die RAF die Freilassung ihrer gefangen gehaltenen Mitglieder zu erpressen. Zuletzt im Herbst 1977 durch die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Aber die Bundesregierung gibt nicht nach. Ein palästinensisches Kommando versucht den RAF-Forderungen Nachdruck zu verleihen, indem es eine Lufthansa-Boeing, die „Landshut“, mit deutschen Urlaubern entführt. Doch die am 17. Oktober in Mogadischu gelandete Maschine wird von der deutschen GSG 9-Spezialeinheit gestürmt und die Geiseln befreit. Daraufhin erschießen sich die Terroristen Andreas Baader und Jan-Carl Raspe in ihren Zellen. Gudrun Ensslin erhängt sich – vor 40 Jahren, am 18. Oktober 1977.
Der Artikel stammt aus dem Christlichen Medienmagazin 05/2017, die Sie kostenlos unter der Adresse info@pro-medienmagazin.de oder telefonisch unter 06441/915-151 bestellen können.
Matthias Hilbert, geboren 1950, wohnt in Gladbeck. Er ist Lehrer i. R. und wie Ensslin Pastorenkind. Als Buch ist von ihm zuletzt erschienen: „Fromme Eltern – unfromme Kinder? Lebensgeschichten großer Zweifler“. Darunter ist auch das Schicksal Gudrun Ensslins.
Von Matthias Hilbert