Alexej Heistver ist ein bescheidener, freundlicher Mann. Ein guter Erzähler, dem man gerne zuhört, auch wenn ihm manchmal die deutschen Begriffe fehlen. Der promovierte Historiker widmet sein Leben der Erinnerung – damit das, was ihm widerfahren ist, sich niemals wiederholt.
Alexej habe ich über die „Initiative 27. Januar“ (I27J) kennengelernt. Der 27. Januar ist der Internationale Holocaust-Gedenktag, an diesem Tag wurde 1945 das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Jährlich erinnert die I27J mit einem Gedenken in Synagogen in München und Berlin an diesen Tag.
Neben Politikern verschiedener Parteien sind Zeitzeugen eingeladen. Alexej Heistver sprach im Januar 2023 in Berlin, einige Wochen später besuchte er uns im gemeinsamen Berliner Büro der I27J und der Evangelischen Allianz. Er signierte uns sein Buch „Verwundete Kindheit“, und sprach seine große Sorge aus, dass mit der sterbenden Generation der überlebenden Zeitzeugen auch die Geschichten der jüdischen Opfer verloren gehen könnten. Darum möchte ich sie erzählen:
Alexej Heistver wird 1941 im litauischen Kaunas als Sohn jüdischer Eltern geboren, das genaue Geburtsdatum kennt er nicht. Schon kurz nach der Geburt wird er von seinen Eltern getrennt. Im selben Jahr hatten die Nazis die Sowjetunion angegriffen, und kurz danach Kaunas eingenommen. 40.000 Juden leben in der Stadt, sie werden in ein Ghetto gesperrt, Massenerschießungen setzen ein, Familien werden auseinandergerissen. Alexej ist zu jung, um sich an das genaue Geschehen zu erinnern.
Ein Kind bleibt stumm
Vieles, was damals genau geschehen ist, erfährt Alexej erst fünfzig Jahre später, bei den Recherchen zu seinem Buch. Er trifft er eine Frau, die sich an ihn erinnert: Sie selbst war als Neunjährige mit ihrer Mutter ins Erschießungslager getrieben worden. Ein deutscher Offizier setze sich für die Kinder ein. Das Mädchen schnappte sich den kleinen Alexej und sie konnten sich retten. Ihre Mütter wurden erschossen. Ebenso wie 8000 bis 10.000 andere Juden aus Kaunas.
Die Kinder kommen ins Konzentrationslager Kauen, dort wird ein „Waisenblock“ eingerichtet. Ein SS-Arzt führt medizinische Experimente an den Kindern durch. An den Mann und dessen sadistische Grausamkeit erinnert sich Alexej:
„Er kam zu uns und immer hat er seinen Koffer geöffnet und gezeigt, was darin lag. Es war wie eine sadistische Aktion, kann man sagen, weil die Kinder zu weinen begannen, und es war für ihn vielleicht eine Selbstbefriedigung.“
Im Koffer lagen medizinische Instrumente. Eins davon ein Skalpell, mit dem Alexej das Gaumenzäpfchen durchtrennt wurde. Der SS-Arzt wollte die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung des Kindes beobachten. Der Junge blieb stumm. Immer wieder gab es neue schmerzhafte „Experimente“. Doch es geschieht das Unmögliche: „Eine Putzfrau hat mich gerettet.“ Es waren couragierte Frauen, die ihm und sechs anderen das Leben retten, als sie hören, dass die Kinder am nächsten Tag deportiert werden sollen. Die Reinigungskräfte, Litauerinnen und Russinnen, verstecken sie in Wäschesäcken und bringen die Kinder aus dem Lager. Alle anderen Kinder und alten Menschen wurden kurz darauf ermordet.
„Leider interessieren sich nur wenige für unsere Geschichte“
Nach der Befreiung lebt Alexej Heistver im jüdischen Waisenhaus in Kaunas, 1946 wird er adoptiert. „In der Adoptionsurkunde stand nur das Geburtsjahr, kein Tag und kein Monat.“ Mit seinen Adoptiveltern zieht er nach Moskau und Odessa. Mit neun Jahren beginnt er zu sprechen. Der Adoptivvater, ist selbst Jude, die Adoptivmutter dagegen, eine Russin „war antisemitisch, obwohl sie mit einem Juden verheiratet war. Sie hat mich oft geschlagen.“
Alexej Heistver studiert Geschichte. Die Dokumente seiner eigenen Familie kann er aber erst nach dem Ende der Sowjetunion einsehen. Sein leiblicher Vater, Chaim Alexandrowitsch, wurde im Juli 1944 aus Kaunas nach Dachau deportiert und dort ermordet. „Mehr als fünfzig Jahre waren meine Eltern mir unbekannt. Wo und wie meine Mutti und Vati ums Leben gekommen waren, habe ich erst erfahren, als ich selbst schon Großvater war.“
Dr. Alexej Heistver lebt heute mit seiner Frau in Wismar. Er leitet den Verein „Phönix aus der Asche“ und kümmert sich in Deutschland um lebende Holocaustopfer aus der ehemaligen Sowjetunion. „Leider interessieren sich nur wenige für unsere Geschichte“, seufzt er. Und wird doch nicht müde sie zu erzählen. „Es schmerzt immer wieder. Aber wir dürfen nicht vergessen, was die Nazis getan haben.“