Drei Tage ist es her, dass ein achtjähriger Junge und seine Mutter am Frankfurter Hauptbahnhof vor einen einfahrenden Zug gestoßen wurden. Das Kind starb. Am Ende des Gleises liegen auf einer Fläche von etwa zwei mal zehn Metern Blumen, Gestecke, Plüschtiere und Beileidsbekundungen in verschiedenen Sprachen. Die eritreische Gemeinde der Stadt hat ihre Anteilnahme formuliert, die Frankfurter Eintracht auch, eine Kinderzeichnung zeigt ein Kind unter einem Regenbogen, darüber rote Herzen. Zahlreiche Kerzen brennen. Eine Passantin legt eine rosa Rose dazu, eine zweite einen gelben Teddybären, ein Mann hat eine weiße Nelke dabei, eine Frau bekreuzigt sich. Zwei Mitarbeiter der Bahn-Sicherheit beaufsichtigen die Szene, gelb-schwarzes Band grenzt die Trauerfläche ab.
Die erste Fahrt mit der Bahn, nachdem ich von dem Ereignis gehört hatte, fühlt sich seltsam an. Ich stelle mich direkt neben eine Wand, ausreichend Abstand zur Bahnsteigkante. Bei der zweiten Fahrt regiert schon wieder die Routine. Es hätte jeden treffen können, der hier Blumen ablegt. Wer sich häufiger über Bahnhöfe bewegt, kennt den Tumult, die Hektik, die Enge auf den Bahnsteigen. Ein Wunder eigentlich, dass nicht mehr Menschen ins Gleisbett fallen. Wie verletzlich ist man doch. Aber dass ein Mensch diese Verletzlichkeit offenbar gezielt ausnutzt und aus dem Nichts Menschen vor den Zug stößt, das erschüttert.
Ohne Vertrauen geht es nicht
Es erschüttert das „Urvertrauen, nicht unversehens in mörderischer Absicht angegriffen zu werden“, schreibt ein Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Damit hat er wohl Recht. Aber dennoch dürfen wir uns das soziale Grundvertrauen durch diese Tat nicht nehmen lassen. Wir dürfen uns nicht von einem womöglich psychisch Kranken dazu verleiten lassen, unsere Mitmenschen, vor allem die fremd aussehenden und die Mitmenschen aus anderen Herkunftsländern, misstrauisch und argwöhnisch anzuschauen. Misstrauen macht unfrei und es vergiftet das Zusammenleben.
Ohne Vertrauen kann keine Gesellschaft, kein soziales Miteinander funktionieren. Wir sind darauf angewiesen, dass wir Vertrauen geben und empfangen. Ich muss darauf vertrauen, dass der andere mir nicht grundsätzlich etwas Böses will, dass der Busfahrer fahrtüchtig ist und die Kellnerin keine Drogen in die Cola kippt. Und auch darauf, dass andere in mir nicht einen potenziellen Verbrecher sehen, weil ich ein weißer, heterosexueller Mann mit innerdeutschem Migrationshintergrund bin.
Deshalb sollten wir uns nicht an der unsäglichen und ätzenden Stimmungsmache beteiligen, die reflexhaft wieder pauschal gegen Migranten und die Flüchtlingspolitik aufkocht, angefeuert unter anderem von Vertretern der AfD – ohne Rücksicht auf Fakten, Ermittlungsergebnisse und Zusammenhänge. Vielmehr sollten wir mit den Betroffenen trauern und aller Erschütterung zum Trotz wieder menschliches Vertrauen wagen und dem Nächsten Gutes unterstellen – egal woher er kommt.