Sinnloses Herumscrollen statt gezieltes Informieren – das endlose Scrollen durch die Inhalte von Twitter, Instagram, TikTok und Co. kennt wohl jeder, der regelmäßig Soziale Medien nutzt. Am Ende stellt sich bei vielen ein Gefühl der Unzufriedenheit, ja sogar der Scham ein, weil man so viel Zeit vergeudet hat. Forscher sprechen dabei nicht unbedingt von einer „Social-Media-Sucht“, wohl aber von einem Phänomen namens Dissoziation.
Auch beim Lesen eines Buches kann es passieren: Man liest zwar, stellt aber nach einer gewissen Zeit fest, dass man sich gar nicht auf das Gelesene konzentriert. Auch wer einen Film schaut oder ein Computerspiel spielt, erlebe diese Dissoziation, sagen Forscher. Manche sprechen auch von einem „Flow“ oder ganz einfach von Tagträumen.
„Diese Zustände verringern die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung von Personen um einen herum, von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen“, schreiben Wissenschaftler der University of Washington in Seattle. Ein Team um die Computerwissenschaftlerin Amanda Baughan hat untersucht, wie Social-Media-Apps diesen „Flow“ geradezu anstreben.
Ein Gefühl von Zeitverschwendung
In gewisser Weise sei dieser Flow normal. Es gebe aber auch eine negative Form der Dissoziation, etwa bei Glücksspielgeräten in Las Vegas. Smartphone-Apps würden oft dafür benutzt, solche „Mini-Fluchten“ aus der Realität zu schaffen, sagen Psychologen, etwa bei „geistlosen“ Spielen wie Candy Crush.
Auch Informationshäppchen wie bei Facebook oder Twitter könnten als solche Erfahrungen dienen. „Das Gehirn wir in ähnlicher Weise sofort belohnt wie wenn man isst oder einen Betrag Geld gewinnt“, schreiben die Autoren der Studie mit dem Titel „Ich kann mich nicht einmal erinnern, was ich gelesen habe – Wie das Design Dissoziation in den Sozialen Medien hervorruf“. Die Forschung spreche vom „Internet blackout“ und vergleiche das Stöbern in den Sozialen Medien mit „Trance“. Die Apps der Sozialen Medien seien genau daraufhin ausgerichtet, so die Forscher.
Das Team um Amanda Baughan programmierte für seine Untersuchung eine Twitter-App und ließ sie 43 Testpersonen aus den USA einen Monat lang nutzen. Der Name der App war „Chirp“ – das Englische Wort für „Vogelzwitschern“, in Anlehnung an das „Zwitschern“ beim Kurznachrichtendienst Twitter. Die Forscher banden den normalen Twitter-Datenstrom in die App ein, fügten jedoch zusätzlich verschiedene Funktionen ein, etwa Befragungen der Nutzer und kurze Unterbrechungs-Nachrichten.
Bei einer Testgruppe poppte etwa in regelmäßigen Abständen ein Dialogfeld auf, in dem die Nutzer auf einer Skala von 1 bis 5 angeben sollten, inwieweit sie der Aussage zustimmten „Ich benutze Chirp derzeit, ohne wirklich darauf zu achten, was ich tue.“ 18 der 42 Testpersonen stimmten dieser Aussage mindestens einmal zu – für die Forscher ein Hinweis darauf, dass die Teilnehmer in einen Zustand der Dissoziation geraten waren.
Es stellte sich heraus, dass zwar viele Nutzer davon sprachen, abgelenkt worden zu sein und dadurch eine angenehme Pause gemacht zu haben. Doch gleichzeitig berichteten viele davon, eher passiv in eine Dissoziation, also eine Abspaltung von der normalen Wahrnehmung geraten zu sein. Die Inhalte wurden eigentlich gar nicht mehr bewusst wahrgenommen, und am Ende fühlte es sich für die Nutzer so an, damit sinnlos Zeit verschwendet zu haben.
„Sie sind auf dem neuesten Stand!“
Manche Nutzer wurden darüber informiert, wenn sie alle neuen Tweets gelesen hatten und es nichts Neues mehr gab. Andere mussten Listen anfertigen, mit denen sie die Accounts organisierten, denen sie folgten. Außerdem entfernten die Forscher die Spalte mit den statistisch beliebtesten Tweets. In einer anderen Version von Chirp bekamen die Nutzer Statistiken dazu angezeigt, wie viele Inhalte sie gelesen und wie viel Zeit sie mit der App verbracht hatten. In einem anderen Versuch beschränkten die Forscher die mögliche Nutzungsdauer von Chirp auf 20 Minuten.
Viele erlebten nach eigener Aussage einen Effekt des „Flows“, des Verlorenseins in den Informationen. Es ergab sich auch oft ein „Schneeball-Effekt“, indem man mit einem Tweet anfängt, aber dann noch die Antworten und wiederum die Reaktionen darauf durchlese.
Andere Teilnehmer der Studie berichteten, dass sie Social Media wie eine Art Pause benutzen. „In der Mittagspause schaue ich YouTube-Videos, und dann werden mir Inhalte vorgeschlagen, und das ist das Problem“, sagte eine Teilnehmer. „Was mich dann rettet, ist eine Termin-Erinnerung, die mir sagt: Du hast noch was zu erledigen!“
Eine Versuchsperson sagte über die Twitter-Nutzung: „Ich scrolle immer weiter und hoffe, irgendetwas Interessantes zu finden. Dann verliere ich mich darin und scrolle immer weiter durch Müll auf der Suche nach etwas, das irgendein Interesse in mir triggert.“ Mehrere Versuchspersonen klagten, dass sie anschließend das Gefühl hätten, Zeit verschwendet zu haben.
Die Studienergebnisse sollen nach Aussage der Autoren dabei helfen, Lösungen für den ungewollten Zustand des Sich-Verlierens zu finden und die Social-Media-Nutzung besser zu kontrollieren. Eine Hilfe sei es, wenn die Apps oder das Smartphone selbst mögliche Ausstiegspunkte bieten. Die Betriebssysteme von Apple und Google zeigen dem Nutzer auf Wunsch regelmäßig die aktuelle Nutzungsdauer des Gerätes an und empfehlen einem, es wegzulegen.
Eine große Hilfe sei es für Nutzer gewesen, die Inhalte in Listen zu organisieren, fanden die Forscher heraus. So filterten die Studienteilnehmer viel „Müll“ heraus, der für sie eigentlich gar nicht von Interesse war. Auch der Hinweis, dass man nun alles Aktuelle gelesen habe, half, berichteten Nutzer. „Der Hinweis: ‚Sie sind auf dem neuesten Stand!‘ ist gut, denn mein Gehirn denkt immer, ich müsse immer tiefer in den Kaninchenbau, und ich würde eigentlich nie zu einem Ende kommen.“ Vielen Versuchsteilnehmern half zudem der Hinweis der App, dass eine bestimmte Nutzungsdauer erreicht ist.
Die Social-Media-Plattformen seien darauf ausgelegt, die Nutzer möglichst lange auf der Seite zu halten, so die Forscher. Der dissoziative Zustand führe dazu, dass die Nutzer ein vermindertes Gefühl der Handlungsfähigkeit haben. Um den Nutzwert für die Menschen zu maximieren, müssten die Plattformen aber bessere Möglichkeiten des Zeitmanagements bieten, so die Forscher. Denn wer nicht das Gefühl hat, wie in einer Sucht gefangen zu sein, könne von Zeit zu Zeit den dissoziativen Zustand als willkommene Pause genießen und sich dabei entspannen.