Ein Kind wird ermordet, eine Frau vergewaltigt, ein junger Mann bei einem Unfall schwer verletzt – kann man den Schuldigen vergeben? Wissenschaftler bestätigen: Man sollte sogar!
Vergeben kann helfen, mit Verlust und Schmerz weiterzuleben, ohne zu verbittern
Aba Gayles Tochter ist tot. Erstochen. Ihr Mörder, Douglas Mickey, sitzt im Gefängnis und wartet auf seine Hinrichtung, seit 1983. Dass er mit dem Tod bestraft werden soll, hat Gayle nicht dabei geholfen, ihre Trauer zu überwinden, den Hass und die Lust nach Rache zu stillen. Sie brauchte Jahre, um „beim Lesen, Beten und im Gespräch“ auf die Gedanken zu kommen: Ihre Tochter hätte nicht gewollt, „dass in ihrem Namen getötet wird“. Die Hinrichtung des Mörders würde Gayle keinen Frieden geben. Schließlich schrieb sie Mickey einen Brief, in dem sie ihm mitteilt, dass sie ihm vergibt. „Das bedeutet nicht, dass ich glaube, dass Sie unschuldig sind. Aber ich habe verstanden, dass Sie ein Kind Gottes sind. Sie sind von Gottes Liebe umfangen, selbst jetzt in ihrer Zelle.“ Gayle besuchte den Mörder ihrer Tochter und andere Verbrecher im Gefängnis und sie macht sich dafür stark, dass er nicht hingerichtet wird.
„Vergebung hat Aba Gayle ermöglicht, woran die Rachelust gescheitert ist: den Schmerz zu lindern“, fasst das Magazin stern zusammen. In ihrer aktuellen Ausgabe porträtiert die Zeitschrift Menschen, die nach einem Unheil, das ihnen angetan wurde, ihren Frieden zu finden versuchen. Einige von ihnen haben die Vergebung gewählt. Und es wird deutlich: Vergebung befreit und hilft, mit dem Schmerz zu leben.
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Auch Gisela Mayer trauert um ihre Tochter: Sie kam bei dem Amoklauf in einer Schule in Winnenden ums Leben. Mayer spürt die Wut auf den Täter in sich, der sich selbst erschossen hatte. Nach über einem Jahr habe sie sich gefragt, was er für ein Mensch gewesen sein mag. „Sein Leben muss kalt, hoffnungslos und traurig gewesen sein, sonst hätte er es nicht weggeworfen“, erzählt sie. „Nach und nach wurde er für mich vom bloßen Täter zum Menschen.“ Diese Sichtweise habe ihr geholfen, ihm zu vergeben. Ein Geschenk, wie sie sagt. Vorher hätten die Wut und der Hass sie gelähmt. Der Schmerz sei zwar nicht vorbei, aber sie könne wieder leben.
Die Frage, wie man auf Unrecht reagiert, stellt sich immer wieder, im Großen wie im Kleinen. Vergebung oder Vergeltung seien letztlich die einzigen beiden Möglichkeiten, zwischen denen der Mensch wählen könne, meint der Evolutionbiologe Michael McCollough. Allerdings setze sich bei letzterem eine Spirale der Gewalt in Gang, die nur Vergebung durchbrechen könne. Das Magazin verweist auch auf die Bitte im Vater Unser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Christen glaubten daran, „dass Jesus starb, um die Menschen von ihren Sünden zu befreien. Er starb, damit Gott ihnen vergibt“. Im Judentum sei Jom Kippur, der Versöhnungstag, der höchste Feiertag. Auch im Koran gebe es die Idee, Vergebung der Vergeltung vorzuziehen.
„Ändern, wie ich damit umgehe“
Dass dies nicht einfach ist, verschweigt der Bericht nicht. Vergebung könne man sich nicht vornehmen oder planen. Es sei ein langer Weg bis dahin. Zunächst müssten Gefühle wie Hass, Trauer und Verachtung zugelassen werden. Der Schmerz müsse „ein bewusster Teil der eigenen Lebensgeschichte werden“. Erst dann sei ein Mensch „frei genug, um wirklich zu vergeben“. Das kann viele Jahre dauern, wie die Beispiele zeigen. Vergebung sei nicht dasselbe wie Versöhnung, weil es keine Beziehung voraussetzt. Der Täter müsse auch nicht davon wissen. „Verzeihen heißt im Grunde bloß eins: dass es nicht mehr wurmt“, sagt der Psychiater Michael Linden.
Niemand könne ändern, was passiert ist, sagt die Auschwitz-Überlebende Eva Mozes Kor. „Aber ich kann ändern, wie ich damit umgehe.“ Sie hat sich in den 90er Jahren mit dem SS-Arzt Hans Münch getroffen und sich von ihm erzählen lassen, was er im Konzentrationslager mit ihrer Familie und anderen Häftlingen gemacht hatte. Er bekannte sich zu seinen Untaten und Kor vergab ihm und allen Nationalsozialisten. „Und die konnten sich noch nicht mal dagegen wehren.“ (pro)
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