Es klingt ein bisschen wie ein Witz. Aber wenn es um anstößige Wörter und die Darstellung von Nacktheit geht, verstehen viele Amerikaner keinen Spaß mehr. Und so ist die berühmte Graphic Novel „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelmann zum Ziel eines Banns in amerikanischen Schulen geworden. Die Schulkommission des McMinn County im US-Bundesstaat Tennessee hat das Buch aus dem Curriculum der Schulen entfernt. Der Grund: Darin kämen acht Schimpfwörter vor sowie eine Zeichnung von Nacktheit.
Wohl gemerkt: Der New Yorker Künstler Art Spiegelmann verarbeitet in dem Buch in Form einer Geschichte mit gezeichneten Bildern die Erlebnisse seines Vaters Władysław Spiegelman und seiner Mutter Andzia Spiegelman, die beide das Konzentrationslager in Auschwitz und weitere Konzentrationslager überlebt hatten. Der Großteil der sonstigen Familie, darunter ihr erster Sohn, sowie Freunde wurden von den Nazis ermordet.
Durch Spiegelmans Buch erfuhren viele Millionen Menschen weltweit davon, darunter viele Schüler, und lernten etwas über die Grausamkeiten der Shoah. Derartige Berichte halten die Erinnerung wach, und Geschichtsklitterung hat eine geringere Chance. Wenn sich hierzulande eine „Jana aus Kassel“ mit Sophie Scholl vergleicht, wenn sie gegen die Coronamaßnahmen der Regierung protestiert, dann hat der Geschichtsunterricht versagt.
Blutige Ballereien ja, Fluchen nein
Man muss nicht einmal nach Washington und auf die völlig verrückt gewordenen Trump-hörigen Republikaner schauen: Wenn amerikanische Lehrkräfte meinen, wegen ein paar Schimpfwörter und Nacktheit ein Buch über den Holocaust den Kindern vorenthalten zu müssen, zeigt das einmal mehr, dass in den Köpfen, dass in diesem Land etwas grundlegend aus dem Ruder läuft.
In einem durchschnittlichen Hollywood-Film werden nach allen Regeln der Kunst Menschen auf jede erdenkliche Art hingerichtet, erschossen, erstochen und verprügelt, und das dahinterstehende Millionengeschäft nennt sich „Unterhaltungsindustrie“, es läuft in den Kinos, im amerikanischen Fernsehen und auf Streamingportalen wie Netflix rauf und runter.
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Aber sobald im Live-Fernsehen jemand einen Kraftausdruck benutzt, bekommen die Chefs der amerikanischen Fernsehsender Schnappatmung. Wenn ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat nachweislich seine Frau mit einem Pornostar betrogen hat und einen Umgang mit Frauen nahelegt, bei dem nicht nur hartgesottenen Feministinnen die Kinnlade herunterfällt, dann kann er die Wahl trotzdem gewinnen; wenn aber im amerikanischen Fernsehen von einem menschlichen Körper ein wenig mehr zu sehen ist als beim gewöhnlichen Cheerleader eines College-Footballspiels, steht für die Amerikaner der Untergang ihrer Kultur unmittelbar bevor.
Wie kann man so verlogen ein konservatives Weltbild in ein Zerrbild verwandeln?
„Maus“ wurde von der Kritik hoch gelobt und gilt bis heute als eine der besten Graphic Novels, die je gemacht wurden. Im Jahr 1992 wurde es als erste Literaturform dieser Art überhaupt mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Um mehr Abstand zu den schrecklichen (leider realen) Handlungen zu bekommen, zeichnete Spiegelman darin die Nazis als Katzen und die Juden als Mäuse.
Bei dem als anstößig empfundenen Schimpfwort handelt es sich zum Beispiel um ein geäußertes „God Damn“. Auf einem Bild wird von Spiegelmans Mutter erzählt, die nackt in einer Badewanne sitzt, nachdem sie von Nazis geschlagen wurde. Ein Mitglied des Schulausschusses beschwerte sich: „Das Buch zeigt Menschen, die gehängt werden, wie Kinder getötet werden, warum zeigt ein Bildungssystem diese Sachen?“
Vielleicht ist ein Grund: Weil diese Dinge wirklich passiert sind. Und leider fielen in Auschwitz nicht nur Flüche.
Und wenn Nacktheit 80 Jahre später in einem Südstaat der USA ein Problem darstellt, dann wird deutlich, dass manche Menschen, geblendet von einem realitätsfremden, selbstherrlichen konservativen Weltbild, beim Thema Holocaust „den Schuss nicht gehört haben“, und zwar hier im wahrsten Sinne des Wortes.
Und das ausgerechnet in einem Bundesstaat, in dem noch bis vor 50 Jahren Schwarze an Bäumen aufgehängt wurden, in dem 1865 der Ku-Klux-Klan gegründet wurde, in dem 1968 ein gewisser Martin Luther King ermordet wurde. Man wünschte sich, jemand würde die Geschichte des Rassismus in diesem Bundesstaat in Form von Zeichnungen darstellen und dabei nur die Flüche wiedergeben, die Schwarze unter Qualen ihren weißen Peinigern entgegengeschleudert haben.
Abgesehen davon, dass eine Schule in Tennessee gut daran täte, den Schülern eine für sie angemessene Form der Geschichtsvermittlung zu nutzen: Wer ernsthaft annimmt, jemand könnte seine sexuelle Neugier in einem Graphic Novel über den Holocaust befriedigen, mit dem stimmte etwas nicht.
Man kann von Graphic Novels halten, was man will. Und man kann sie auch als nicht geeignete Form halten, um das Thema Holocaust zu thematisieren. Doch sind Graphic Novels keine Cartoons wie Donald Duck oder die kurzen Comicstrips, die vielleicht bei manch einem in Taschenbüchern auf dem Klo liegen. Sie sind eine Form von Literatur, die mit den Stärken von Zeichnungen große, ernste Geschichten erzählen können, auch wenn das Wort „Comic“ auf die witzigen Zeichnungen anspielt, als die sie entstanden.
Nur in Form von Buchstaben auf Papier wiedergegebene Geschichten zu gestatten, wäre so, als wenn man Erklär-Grafiken in Zeitungen anstößig findet, weil die Zusammenhänge nicht im Text, sondern als Bild präsentiert werden. Und warum sollte man Spielfilme über den Holocaust akzeptieren, nicht aber aufwendig gezeichnete Bücher? Vielleicht hat sich noch nicht bis Tennessee herumgesprochen, was Graphic Novels sind, vielleicht hat man dort aber auch vergessen, dass es die Opfer des Dritten Reichs wahrscheinlich lieber gesehen hätten, wenn die Nazis bloß nackt und fluchend durch die Städte gezogen wären.
Der 73-jährige Spiegelman sagte gegenüber dem Nachrichtensender CNN, er sei baff gewesen, als er davon hörte. Er habe so viele junge Menschen getroffen, die viel von seinen Büchern über den Holocaust gelernt hätten. Wer in Tennessee aufwächst, darf sich offenbar nicht nur auf den Unterricht in der Schule verlassen. Manchmal möchte man einigen Amerikanern zurufen: „God damn, grow up!“
5 Antworten
Es ist durchaus zum Schmunzeln, wenn wir in andere Kulturen schauen und deren Inkonsistenzen in moralischen Fragen und gesellschaftlichen Kompromissen aufdecken. Wir hier in hoch-rationalen Deutschland haben jede Art von gesellschaftlichen Störgefühl darüber verloren, dass p.a. über 100.000 Kinder im Mutterleib getötet werden. Hingegen haben wir ein enormes Störgefühl, wenn männliche Küken – egal auf welche Art und Weise (es ging nicht um die Methodik, sondern um das „ob“) – getötet werden. Und weil unsere Tochter am Wochenende mit einem positiv getesteten (Corona) Mädchen gespielt hat, dass NICHT in ihrem Kindergarten ist, ist sie jetzt in Quarantäne. Hätte sie mit einem positiv getesteten Mädchen gespielt, dass in ihrem Kindergarten geht, wäre sei frei. Links und Rechts übern See: Komische Menschen. Jedenfalls habe ich jetzt eine Buchempfehlung für die Quarantänezeit mit meiner Tochter.
Was , bitte schön, hat Ihr Kommentar mit dem Beitrag zu tun ?
Ist das wirklich so schwer zu verstehen?
Der Kommentar von Schmall macht zurecht darauf aufmerksam, dass Moralvorstellungen kulturell abhängig sind und aus einer Außenperspektive Inkonsistenzen aufweisen, wohingegen man für die eigene Kultur eher blind ist.
Der Beitrag hier zeigt die moralische Inkonsistenz US-amerikanischer Konservativer im Blick auf die Gewichtung von Sexualethik und Gewalt. Davon gibt es freilich noch viele andere: So wird ein 16-jähriger Amerikaner für reif genug erachtet, im Krieg für sein Land zu sterben, aber nicht, vor seinem 21. Geburtstag ein Bier zu kaufen.
Worauf Schmall aufmerksam macht, ist dass „wir“ in Deutschland andere moralische Inkonsistenzen haben, in dem Fall eine unausgewogene – oder vielmehr völlig verzerrte – Verhältnisbestimmung der Schutzwürdigkeit ungeborener Menschen und ungeborener Hühner. Da würde sich so mancher Amerikaner wieder an den Kopf greifen.
Die USA befinden sich in einem Kulturkampf, – leider wohl in gewisser Weise ein Zukunfts-Szenario auch für Deutschland.
Wenn z.B. Whoopi Goldberg behauptet, der Holocaust habe nichts mit Rassismus zu tun, dann fragt man sich, wie absurd die Rassismusdebatte überhaupt werden kann:
„«It’s not about race»: Whoopi Goldbergs Statement zum Holocaust war kein Fauxpas, es hat System
Whoopi Goldberg hält die Ermordung der Juden durch die Nazis nicht für rassistisch, weil sie ein Unrecht unter «Weissen» war. Und Weisse sind nicht Opfer, sondern Täter. Diese Logik entspricht exakt der Ideologie der Critical Race Theory. Den Aktivisten geht es darum, den Opferstatus für sich zu bewahren.“
(NZZ, 4.2.22)
Der Artikel der NZZ schließt mit dieser zutreffenden Analyse:
„Ein Antirassismus, der sich von der «Rasse» nicht trennen will, weil man sie politisch so gut instrumentalisieren kann, praktiziert das, was er zu bekämpfen vorgibt.“
Klassischer Fall von what-aboutism! Hier geht es um einen Fall von rechts-reaktionärer Cancel-culture… und die ist im rechtsevangelikalen republikanischen Milieu beileibe kein Einzelfall!