Der Militärkonvoi donnert über die staubigen Pisten Afghanistans. Fast Stoßstange an Stoßstange rasen die Fahrzeuge hintereinander her. Die US-Soldaten haben die Order, nicht anzuhalten, selbst wenn ein Kind auf die Straße rennen würde. Zu hoch ist die Gefahr eines Anschlags. Die Menschen in den belebten afghanischen Städten und Dörfern wissen das. Sie halten inne, packen ihre Kinder an der Hand, wenn eine Kolonne von einer Militärbasis zur nächsten fährt. Doch in diesem Dorf ist etwas anders, merkt John (Name geändert), der am Steuer eines Humvee-Geländewagens sitzt. Die Straßen sind leer. Wo sonst Trubel herrscht, ist es völlig ruhig. Warum diese Stille?
Als John aufwacht, liegt er im Krankenhaus. Er selbst hat nicht viel von den Splittern der Bombe abbekommen, die unter den Militärfahrzeugen bei voller Fahrt gezündet wurde. Die Detonation hatte ihn trotzdem durchgeschüttelt.
Krieg ist furchtbar. Er bringt Tod, Zerstörung und Verletzung mit sich. Doch viele Veteranen leiden nicht nur unter körperlichen Verletzungen. Mindestens genauso schlimm plagen die Wunden, die keiner sieht. So auch bei John.
Monate später. John fährt mit seiner Familie im Auto über eine Landstraße in Deutschland, um ein Fest zu besuchen. Es ist noch frühmorgens, doch die Kinder machen gut mit, sie albern und singen. Bis sie über eine Brücke fahren. John fühlt Beklemmungen. Sie erreichen ein Dorf. Kein Mensch ist draußen, so wie damals in Afghanistan. Plötzlich beginnt er zu schreien, so laut er kann. Er kriegt sich nicht mehr ein. Die Familie muss umkehren. Ab diesem Zeitpunkt ist John nicht mehr derselbe. Er knallt die Türen, ist aufbrausend, trinkt zu viel Alkohol, wird impotent. Seine Frau kann die Situation überhaupt nicht einordnen.
An einem Samstag im Juli sitzt Tim Carentz auf einer Eichenbank seines „Rhema Cafés“ im rheinland-pfälzischen Landstuhl. Der groß gewachsene Ex-Soldat mit dem Sieben-Tage-Bart weiß Dutzende solcher Geschichten zu erzählen. Im Juni 2019 hat er das christliche Café gegründet, um Militärangehörigen zu helfen, die an „unsichtbaren Wunden“ leiden. Und von ihnen gibt es viele.
In der Vitrine prangen die Militärabzeichen
Vom „Rhema“ sind es vier Kilometer Luftlinie bis zur Ramstein Airbase der US-Luftwaffe. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber es arbeiten wohl Zehntausende US-Militärangehörige und Zivilisten auf dem Gelände, es ist der größte Stützpunkt der Air Force außerhalb der USA. Er gleicht einem Staat im Staate. Denn die Soldaten leisten hier nicht nur ihren Militärdienst, sie wohnen und leben auch mit ihren Familien auf dem Gelände – dank einer gut ausgebauten Infrastruktur. Sie kaufen hier ein, können in die Kirche gehen, Sport treiben und ihre Kinder besuchen die amerikanischen Schulen, von denen es gleich mehrere gibt. Wer nicht will, braucht die Militäranlage so gut wie nie zu verlassen.
Trotzdem wirkt die ganze Gegend um die Airbase wie eine Mischung aus Bundesrepublik und Mittlerem Westen. Läden mit amerikanischen Namen prägen die Landstuhler Innenstadt, geräumige US-Schlitten das Straßenbild. Im „American Dentistry“ lässt man seine Zähne behandeln, im „Tailor Shop“ die Hosen enger nähen. „The Kaiserslautern Military Resiliency Center“, wie das „Rhema Café“ untertitelt ist, tanzt da gar nicht aus der Reihe. Jeder ist willkommen, egal ob er einen deutschen, amerikanischen oder einen anderen Pass hat. Gläserne Außenwände, die einmal die Schaufenster eines Schuhladens waren, umgeben den liebevoll gestalteten Raum. Die dunklen Ledermöbel stehen in Grüppchen zusammen. Die Menschen sollen sich wohlfühlen und schnell jemanden zum Reden finden, gerade wenn sie eine harte Zeit durchmachen. Beinahe täglich kämen Menschen, Zivilisten wie Militärangehörige, ins Café, die an Suizid denken und unbedingt jemandem zum Reden brauchen – auch weil es ihnen schwer fällt, sich in der harten Air-Force-Welt gegenüber Kameraden zu öffnen, sagt Tim.
Wer das „Rhema“ betritt, sieht sofort die Vitrine, in der unzählige militärische Abzeichen und Ehrungen prangen. Sie gehören Tim, der ebenfalls in der Air Force gedient hat. Stolz präsentiert er seine „military awards“. Er deutet auf ein blau-weißes Abzeichen. „Ich habe es bis zum Chief Master Sergeant gebracht, das schafft einer von Hundert.“
Monate später kommt der stechende Schmerz
Tim stammt aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn. Mit 17 ging er zum Militär, wurde auf der Andrew Air Base in der Nähe von Washington, D.C., stationiert. Seine eigene posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hatte ihren Ursprung am 11. September 2001. Als wenige Meilen neben der Andrew Air Base ein Flugzeug im Pentagon zerschellte, gehörte der 21-jährige als Sanitäter zu den Ersthelfern. An diesem Tag erlebte Tim zum ersten Mal Krieg. „Menschen waren unter Trümmern verschüttet, andere liefen wie Zombies herum, vollständig bedeckt mit Blut und Staub.“ In lebensbedrohlichen Situationen reagiert der Körper mit „Fight, Flight or Freeze“, mit Kampf, Flucht oder Starre, erzählt Tim. Seine PTBS meldete sich Monate nach 9/11 mit voller Wucht. Starre. Ein Stechen in der Brust. Heftige Kopfschmerzen. Schwindel. „Es fühlte sich an wie ein Herzinfarkt und ein Schwindel gleichzeitig. Ich dachte, ich würde sterben.“ Tim überlebte, und erst Jahre später verstand er, dass er unter einem Trauma litt.
Doch vorher wurde er ins „Critical Care Air Transport Team“ (CCATT) berufen. Dort holte er als Herz-Lungen-Spezialist zusammen mit einem Arzt und einem Pfleger die schwerstverletzten Soldaten aus Afghanistan und Irak per Flugzeug nach Deutschland und versorgte sie zunächst im Militärkrankenhaus in Landstuhl, bevor sie nach ein, zwei Tagen in die USA geflogen wurden. Er kennt das Geräusch von brechenden Rippen während hektischer Reanimationen, den Geruch des Blutes, das die Kompressen durchnässt. „Ich habe eine lange Zeit die Hässlichkeit des Krieges gesehen. Jeder Tag war schwer.“ Manchmal flog er jede Woche in den Nahen Osten.
2010 verließ er Deutschland, um Nachwuchskräfte des CCAT zu schulen. Doch die Belastungsstörungen blieben. Tims erste Ehe zerbrach. Als sich 2012 ein guter Freund das Leben nahm, war er am Ende seiner Kräfte angelangt. Er nahm Schlaftabletten, doch wenn er endlich schlief, plagten ihn Alpträume, er wachte schreiend auf, nässte ein. Er versuchte es mit Medikamenten: zum Einschlafen, zum Weiterschlafen, gegen Alpträume, zum Aufstehen, zum Wachbleiben. Sein Rekord lag bei 26 Pillen die Nacht. Bis etwas geschah, das Tim als Wunder Gottes bezeichnet. Ein Evangelist hatte in seiner Kirche gepredigt und später für ihn ein Heilungsgebet gesprochen. Tims Symptome seien mit einem Schlag fast vollständig verschwunden. Nur noch ganz selten kommen beklemmende Gedanken, die Erinnerungen wieder hoch. Dann betet er für die Menschen, die damals betroffen waren. Bis heute geht er zum Psychologen und tauscht sich regelmäßig mit seinem Pastor aus. Mittlerweile ist er aus der Air Force ausgeschieden, arbeitet aber weiter als Zivilist für das Militär in Landstuhl.
Das „Rhema“ leitet Tim ehrenamtlich. Er selbst wurde nach einer zehnjährigen theologischen Ausbildung als Pastor der „Assemblies of God“, einer Pfingstkirche, ordiniert. Im Moment beendet er gerade seine Doktoralstudien. Thema: Resilienz im Militär. Jeden Tag nach Dienstschluss kommt er ins Café, so auch heute. Aus seiner dicken, abgegriffenen Studienbibel zitiert er häufig während des Gesprächs. Er brennt für Jesus. Zwei junge ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiten als Baristas hinter der Theke und an der großen Siebträgermaschine, andere sitzen einfach auf den Sesseln und Couches und unterhalten sich mit den Menschen, die hereinkommen. Tim hat in einem Jahr ein großes Netzwerk an Kirchen aufgebaut, die im Café mitarbeiten. Mehr als 30 sind es mittlerweile, von russland-deutschen über lutherische Gemeinden, eine Kirche aus der thailändischen Gemeinschaft, Orthodoxe und viele mehr. Das „Rhema“ ist ein Jahr nach seiner Gründung zu einem Zentrum für tätige Liebe geworden. Neben der Bar liegen gespendete Schlafsäcke, die für das Obdachlosenheim vorgesehen sind. Die Anonymen Alkoholiker und die Narcotics Anonymous treffen sich hier genauso wie die Veteranen, es gibt einen Still-Kreis, ein Treffen für Menschen mit Ängsten und eine Gruppe, in der Menschen über ihre Trauer sprechen können.
Ein Café als Familienersatz
Einer von ihnen ist Nate, der heute wie so oft ins Café gekommen ist. Er trägt eine grüne Basecap und ist gut damit beschäftigt, seinen lebhaften Hund Chewbacca in Zaum zu halten. Mindestens dreimal die Woche schaut er vorbei. „Es ist einer der besten Orte, die ich kenne.“ Nate ist Veteran, er lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Lange wohnte er mit seiner Mutter zusammen. Als sie vergangenes Jahr starb, war Nate am Ende. Er wusste nicht, wohin mit seiner Trauer. Als er das „Rhema“ zum ersten Mal betrat, wusste er nicht einmal, dass es ein christliches Lokal ist. „Du kannst hier einfach herkommen, du kannst reden, wenn du willst, musst aber nicht. Du wirst akzeptiert und nicht verurteilt.“ Mit Tim kam er ins Gespräch, der lud ihn in die Trauergruppe ein. Nate, ein eher schüchterner Typ, gab sich einen Ruck und kam zum Treffen. Dort schwieg er zunächst. Erst am Ende der Stunde überwand er sich und öffnete sich zum ersten Mal, sprach über seine Mutter, seine Trauer, den Schmerz. Im „Rhema“ hat er einen Familienersatz gefunden, Menschen, die füreinander beten und Gott loben.
Über Politik spricht Tim mit den Menschen, die zu ihm ins Café kommen, bewusst nicht. Der gesellschaftliche Riss der USA zieht sich bis über den Atlantik nach Deutschland. „Ich will die Menschen nicht für politische Standpunkte, sondern für Jesus gewinnen.“ Doch trotz dieser politischen Neutralität geriet das Café ins Visier von Aktivisten. Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung hätten eine politische Kundgebung im „Rhema“ gefordert. Black Lives Matter, schwarze Leben zählen, das müsse jeder Christ unterschreiben können, sagt Tim. Doch nicht mit allem, wofür die Bewegung steht, will er sich identifizieren. Deswegen sagte er ab. Zumal es im Café, wo Weiße, Schwarze und Asiaten mitarbeiten, schon lange Veranstaltungen gegen Rassismus gebe. Seither sieht sich das „Rhema“ Anfeindungen ausgesetzt. Aktivisten würden hereinkommen und Parolen schreien, Pamphlete mit Rassismusvorwürfen verteilen, sie rufen sogar Kirchen an, um sie vor der Zusammenarbeit mit „Rhema“ abzuhalten. Tim tippt eine Nachricht auf seinem Handy. Die Gemeinde, die den Lobpreis heute Abend leiten sollte, hat abgesagt. Sie hätten von Rassismusvorwürfen gegen die Gemeinde gehört und wollten erst einmal alles in Ruhe besprechen. Tim ist enttäuscht. „Ich fühle mich mundtot gemacht.“ Er wolle Gottes Liebe zu den Menschen bringen, egal wo sie herkommen oder welche Geschichte sie haben. Die Vorwürfe treffen ihn daher umso härter. Doch er macht weiter. Ihm geht es um die Menschen.
Vom harten Hünen zum sanften Riesen
Der Lobpreisabend im „Rhema“ soll nicht ausfallen. Statt einer Band spielt Tim über einen Bluetooth-Lautsprecher Musik und lädt zum Mitsingen ein. Es dauert nicht lange, bis alle im Worship-Modus sind. Sie heben die Hände, schließen die Augen, beten laut, während andere in Zungen beten. Die Tür des Cafés steht offen, nach und nach kommen immer mehr Besucher herein, die meisten sind junge Christen, gesprochen wird auf Deutsch und Englisch. Sie kommen aus sechs Denominationen und 13 verschiedenen Gemeinden, berichtet Tim.
Nicht alle von ihnen haben so viel Elend erlebt wie John, der Afghanistan-Veteran, der ein Bombenattentat überlebte und dann an posttraumatischen Belastungsstörungen litt. Anfangs wollte er mit niemandem über sein Trauma sprechen. Von Gott wollte der Atheist sowieso nichts wissen. Nur zaghaft kam der Kontakt mit Tim zustande. Sie sprachen über Schlafprobleme, Alkoholmissbrauch, Pornographie, seine Ehe und Sexualität, gingen jeden Bereich gemeinsam an, um sich um Johns Resilienz zu kümmern, also die Fähigkeit, Stress auszuhalten. John, ein hünenhafter Mann, machte Fortschritte, sowohl in seiner Ehe als auch in seiner körperlichen und seelischen Verfassung. Er begann zu beten, besuchte die Bibelgruppe des Cafés, berichtet Tim. Und dann fand er Gott. John sei nun anders, habe seine Frau gesagt. Aus dem Soldaten mit den unsichtbaren Wunden war ein sanfter Riese geworden.
Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 4/2020 des Christlichen Medienmagazins pro. Die pro können Sie hier bestellen.
Von: Nicolai Franz