Etwa 25 Prozent der US-Amerikaner sind evangelikale Christen. Seit Präsident Ronald Reagan haben sie sich immer stärker zu einer rechtskonservativen politischen Bewegung entwickelt; gegen 80 Prozent der weißen Evangelikalen wählen zuverlässig republikanisch. Nebenbei betreiben Evangelikale eine milliardenschwere Medien-, Pop- und Merchandise-Artikel-Industrie. Sie bilden keine kohärente Gruppe, es gibt Dutzende verschiedener Denominationen. Aber ein großer gemeinsamer Nenner ist die besondere Betonung der Bibel.
Führend in der Kunst der patriarchalen Bibelexegese ist der „Council on Biblical Manhood and Womanhood“ – der Rat für biblische Männlichkeit und Weiblichkeit. Er hat den sogenannten Komplementarismus entwickelt. Diese Lehre besagt, dass Mann und Frau sich zu ergänzen haben. Ein Euphemismus, denn: Das Pastorinnenamt bleibt Frauen verwehrt, auch predigen dürfen sie in konservativen Gemeinden nicht.
Trump und Christentum – wie passt das zusammen?
Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen hat der evangelikale Feminismus neuen, anhaltenden Schwung erfahren. Donald Trump ist 2016 auch dank der Evangelikalen zum Präsidenten gewählt worden – und strebt eine erneute Kandidatur an. Viele Frauen fühlten sich von ihren Kirchenleuten hintergangen. Wie sollte ein mehrfach der sexuellen Belästigung angeklagter Sexist wie Trump mit der barmherzigen Lehre Jesus Christus einhergehen?
Kurz nach Trumps Vereidigung kam obendrein die „#ChurchToo“-Bewegung ins Rollen: Etliche Missbrauchsskandale in evangelikalen Kirchen wurden aufgedeckt. Die Täter waren von den Gemeinde-Oberen jahrelang gedeckt worden, ihre Taten verharmlost. Wie sollte das mit dem Bild des männlichen Oberhaupts als verantwortungsvoller Beschützer zusammengehen?
Auch die US-Gender- und Geschichtsprofessorin Kristin Kobes du Mez war zunächst perplex darüber, wie sehr Evangelikale einen Mann unterstützten, „der für all die Dinge zu stehen scheint, die sie bekämpft hatten“. Dieses Paradoxon haben sie zu den Recherchen für ihr 2020 erschienenes Buch inspiriert: „Jesus and John Wayne“.
Darin zeichnet du Mez nach, wie das evangelikale Idealbild von Männlichkeit sich immer stärker vom sanften Jesus in Richtung gewaltbereitem Cowboy à la John Wayne verschoben hat. Am Ende kommt sie zum Schluss, dass die Unterstützung Donald Trumps durch Evangelikale im Grunde keine Überraschung gewesen sei, sondern logische Konsequenz.
Weniger Trumps Wahl als ein persönliches Erlebnis bewegte eine andere US-Autorin zu ihrem evangelikal-feministischen Buch „The Making of Biblical Womanhood“ – die Entstehung biblischer Weiblichkeit.
Die Professorin für Mediävistik sowie evangelikale Pastorenfrau in einer texanischen Gemeinde musste am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man sich nicht an die Regeln des biblischen Rats hält: Ihr Mann wurde von seiner Kirche entlassen, als er sich für Frauen als Lehrende einsetzte.
Die Bibel mit Südstaatenbrille gelesen
Als Evangelikale tut Beth Allison Barr das Einzige, womit sie ihrer eins für feministische Anliegen einnehmen kann: Sie liest die Bibel. Sie widerlegt dabei patriarchal gedeutete Passagen, findet andere, die sich für die Sache der Frau deuten lassen. Die Bibel sei im Vergleich zur damaligen Realität sogar sehr fortschrittlich gewesen, habe so manche Frauen zu Priesterinnen, Prophetinnen oder Retterinnen emporgehoben.
Später hätten Übersetzer aus mancher starken Frau eine schwache oder einen Mann gemacht: So sei etwa aus der Apostelin Junia der Apostel Junias geworden, und aus Phoebe wurde eine „Dienerin“ anstelle einer „Diakonin“.
Männer würden die Heilige Schrift bis heute dem ursprünglichen Kontext entreißen und stattdessen entsprechend ihrer engen patriarchalen Weltbilder deuten, argumentiert Beth Allison Barr. Zu viele Religionsführer würden die Bibel gar „durch die Brille einer sehr speziellen Südstaatenkultur interpretieren, die sowohl im Rassismus als auch im Patriarchat verwurzelt ist.“ Dabei würden sie verkennen, dass der Feminismus etwas zutiefst Christliches sei: „Im Himmel gibt es keine Hierarchie.“
Diese und weitere feministisch-evangelikale Bücher sind in den USA millionenfach verkaufte Bestseller. Die Autorinnen bekommen bis heute fast täglich Reaktionen darauf, sind gern gesehen Gäste in Talkshows und wurden unter anderem auch in deutschen Medien besprochen.
Frommer Feminismus vor 100 Jahren
„Jesus and John Wayne“ ist auch in Brasilien auf Portugiesisch erschienen. Das heißt: Der evangelikale Feminismus wird nun auch in weitere christlich-konservativ geprägte Länder exportiert, die Bewegung nimmt weltweit Fahrt auf.
Dabei gab es den christlichen Feminismus so ähnlich schon vor 100 Jahren. Als wichtigste Vorkämpferin gilt die amerikanische Missionarin Katharine Bushnell. In China fiel ihr auf, dass manche ihrer Kollegen die Bibel ganz schön frei nach eigenem Gusto auslegten. Wenn darin etwa von Männern und Frauen die Rede war, sprachen sie nur von Männern. Ihr schwante, dass diese Praxis weit verbreitet ist.
Bushnell lernte Hebräisch und Griechisch, um selbst nachlesen zu können, was im Original wirklich steht. Und sie stellte fest, dass sehr viele Passagen, die Frauen herabwürdigten, falsch übersetzt worden waren.
Ihre Erkenntnisse hielt sie im Buch „God’s Word to Women“ fest, 1921 erstmals erschienen. Sie fragt darin rhetorisch: Angenommen, über Jahrhunderte hinweg hätten nur Frauen die Bibel übersetzt, wären Männer dann mit dem Resultat zufrieden? Sie hoffte, dass ihre Übersetzungsarbeit zur Gleichberechtigung von Mann und Frau beitrüge.
Stattdessen schlief die Bewegung nach ihrem Tod ein. Erst seit einigen Jahren wird Bushnell von einer neuen Generation christlicher Feministinnen und Feministen wieder entdeckt.
Evangelikale Feministinnen wollen gleiche Rechte und Möglichkeiten. Sie fordern damit uralte feministische Anliegen. Die wenigsten mögen dagegen direkt Stellung zu besonders umstrittenen Themen wie Abtreibung oder Transgender nehmen, Fragen, welche die Bewegung zu spalten drohten. Sie gehen also in ihren Forderungen viel weniger weit als die meisten säkularen Feministinnen.
Frau, gläubig, feministisch
Doch gerade mit dieser sanfteren, angepassten Form des Feminismus können sie jene konservativen Frauen abholen, die sich von radikaleren Varianten nur erschreckt abwenden. Sie zeigen auf: Nicht die Bibel weist Frauen gewisse stereotype Rollen zu, sondern jene, die bisher die Interpretationshoheit über die Bibel hatten. Männer, die ihre Machtpositionen konkurrenzfreier festigen möchten.
Gerade die Pastorenfrau Beth Allison Barr ist für Evangelikale ein ideales Vorbild. Denn sie kann glaubwürdig nachweisen: Ich bin wie ihr! Sie ist der lebende Beweis dafür, dass eine gläubige Christin zugleich eine Feministin sein kann. Heutige weltliche Feministinnen sprechen tendenziell eher Menschen an, die bereits von ihren Anliegen überzeugt sind.
Evangelikale Feministinnen können dagegen potenziell noch Millionen von Frauen aus ihren konservativen Gemeinden umstimmen. Sie können diesen Frauen zu mehr Selbstvertrauen, Selbstermächtigung und Chancengleichheit verhelfen. Derart gestärkte Frauen wissen sich nicht zuletzt auch besser vor Missbrauch zu schützen. Am Ende ist diese harmlosere Form des Feminismus derzeit vielleicht sogar eine wirksamere.
Von: Susanna Petrin, USA