„Unsere Pflegekinder sind wahrhaft Geschenke des Himmels“

Pflegefamilien übernehmen eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft – sie schenken Kindern in Not ein Zuhause. Auch zahlreiche Christen sorgen für Pflegekinder. PRO erklärt, wie man Pflegefamilie wird, aus welcher Motivation heraus Paare ein Kind aufnehmen und welche Herausforderungen damit verbunden sind.
Von Martina Blatt
Kinder und Erwachsene spazieren am Strand entlang

Es ist Juli, die Sonne scheint an einem Sonntagnachmittag und der kleine Paul, der nur in diesem Artikel so heißen soll, liegt im Schatten auf der Picknickdecke. Er brabbelt begeistert seine Pflegemutter an. Sie strahlt zurück, streichelt ihn und kitzelt ihn zärtlich am Bauch. Der sieben Monate alte Junge kam wenige Tage nach seiner Geburt zu seinen Pflegeeltern. Erst war er in Kurzzeitpflege bei ihnen, nun bleibt er dauerhaft bei Kai und Kerstin Offenbach, die bereits zwei leibliche Kinder haben. Pauls leibliche Eltern sind nicht in der Lage, für ihn zu sorgen, und haben es abgelehnt, mit ihm in eine Betreuungseinrichtung zu ziehen.

Im Jahr 2022 wurden in Deutschland rund 121.000 junge Menschen in einem Heim und weitere rund 86.000 in einer Pflegefamilie betreut, wie das Statistische Bundesamt mitteilt – jüngere Kinder bis neun Jahre häufiger in Pflegefamilien. Gründe dafür können sein, dass die Bezugsperson etwa aufgrund einer Krankheit als Betreuung ausfällt oder das Wohl des Kindes in seiner Familie gefährdet ist. „Kleine Kinder brauchen im Besonderen stabile Bezugspersonen für die Persönlichkeitsentwicklung“, sagt Christian Clasen, Mitinitiator der Organisation „Allianz für Pflegekinder“, die sich für Rechte von Pflegefamilien und -kindern einsetzt, im Gespräch mit PRO. „Die Stabilisierung durch unveränderte Bezugspersonen ist nur in einer Pflegefamilie möglich, in allen anderen Betreuungsformen haben wir wechselnde Bezugspersonen.“

Motivation Nächstenliebe

Auch Rahma Ataie, Leiter des Fachbereichs Pflegefamilien im St. Elisabeth-Verein in Marburg, sieht im Gespräch mit PRO Vorteile darin, Kinder so unterzubringen: „Man lebt Familie und hat konstante Beziehungen zu Menschen, die einem tagtäglich in einem häuslichen Umfeld begegnen.“ Sein Verein ist ein freier Träger, der in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt Pflegekinder vermittelt.

Aus welcher Motivation heraus entscheiden sich Familien, Paare oder Einzelpersonen, ein Pflegekind aufzunehmen? „Sie möchten positive Erfahrungen aus der eigenen Familie oder aus der eigenen Pflegefamilie – sei es als leibliches Kind oder als Pflegekind – weitergeben. Andere möchten Kindern und Jugendlichen in Not helfen“, schildert Ataie seine Beobachtungen. Diese Punkte sieht auch Clasen: „Ein weiterer Grund der Pflegeelternschaft ist ein unerfüllter Kinderwunsch und der Ersatz einer nicht möglichen oder nicht gewollten Adoption.“ Zudem gebe es Menschen, die die zeitlich begrenzte Betreuung von Pflegekindern als Lebensunterhalt betreiben. „Bei der Kurzzeitpflege unterstützen Menschen das Jugendamt, bis es eine Familie für eine Langzeitpflege gefunden hat.“

Auch aus der Perspektive der Nächstenliebe heraus entscheiden sich zahlreiche Christen, ein Pflegekind aufzunehmen. In Matthäus 18,5 heißt es: „Und wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.“ Sind Christen aus dieser Motivation heraus überdurchschnittlich häufig als Pflegeeltern vertreten? Das Statistische Bundesamt kann das PRO gegenüber nicht bestätigen, weil es die Konfession der Pflegeeltern und -kinder nicht dokumentiert.

Ataie hat keine konkreten Zahlen, berichtet jedoch vom Elisabeth-Verein: „Ich kann nur zu uns sagen, dass viele Pflegefamilien von uns den christlichen Glauben mitbringen. Es ist bunt gemischt: Es gibt konfessionslose Pflegeeltern, andere mit christlichem Glauben, und im Vergleich – weil der christliche Glaube eher vertreten ist – wenige mit muslimischem Hintergrund.“ Zu den Gründen kann Ataie keine Aussage machen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz fehlen offizielle Zahlen zu Konfessionen der Pflegeeltern. In der Schweizer „Aargauer Zeitung“ heißt es in einem älteren Bericht unter der Überschrift „Gläubige wollen häufiger Pflegekinder“, dass sich oft Familien aus religiösen Glaubensgemeinschaften engagieren. André Woodtli, Chef des Amtes für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich, erklärt der Zeitung: „Ich glaube, man könnte das auch statistisch belegen, dass solche Familien sich überdurchschnittlich häufig melden.“

Katharina und Waldemar Muks sind Mitbegründer des Netzwerks Christlicher Pflegeeltern (NCP). Den Verantwortlichen des 2016 gegründeten Vereins geht es um „den Austausch mit Pflegeeltern, die ihren Glauben im Alltag leben, und Menschen, mit denen wir uns über die Kinder austauschen können. Uns ist vor allem das miteinander und füreinander Beten wichtig“, erklärt Waldemar Muks PRO. Sie organisieren zum Beispiel Freizeiten für christliche Pflegeeltern. „Wir motivieren Pflegeeltern, sich regional zu vernetzen, um sich gegenseitig zu ermutigen und zu unterstützen – vor allem im Gebet.“

Ob Pflegeeltern besonders oft christlich geprägt sind, dazu hat auch Muks keine offiziellen Zahlen. Aber: „Zumindest aus den Gesprächen mit dem Jugendamt kann ich entnehmen, dass die Pflegeeltern oft religiös sind oder eine tiefe Verbundenheit zu Gott haben.“ 2007 hatte das Paar sein erstes Pflegekind, damals kannten sie noch sehr wenige christliche Pflegeeltern. „In den vergangenen Jahren haben sich meiner Meinung nach viel mehr Christen aufgemacht, um Pflegekinder aufzunehmen. Zumindest in den Kreisen, in denen wir uns bewegen.“ Gleichzeitig machen Muks’ die Erfahrung, dass in vielen Gemeinden das Thema unbekannt ist und es kein einziges Pflegekind gibt.

Die Evangelische Allianz in Deutschland beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema. Im Mai gab es ein erstes Treffen mit Menschen, die in der Praxis damit zu tun haben. „Das Fazit: Je länger je mehr braucht es offensichtlich ein Netzwerk der Unterstützung von Pflegefamilien sowie von Information und Sensibilisierung in Gemeinden“, sagt Allianz-Vorstand Frank Heinrich. Der Verband möchte ein dauerhaftes Format für dieses Thema schaffen und lädt dazu ein, sich dabei zu engagieren.

Schritt für Schritt zur Pflegefamilie

Möchte eine Familie, ein Paar oder eine Einzelperson ein Pflegekind aufnehmen, ist dies ein Weg mit verschiedenen Etappen über mehrere Monate: von Informationsveranstaltungen über die Bewerbung bis hin zur Anerkennung. „Man hat in jedem Schritt die Möglichkeit, das Verfahren zu beenden“, erklärt Ataie. Die potenziellen Pflegeeltern benennen gegebenenfalls ihre Vorstellungen zu Alter, Geschlecht oder möglicher Behinderung des Kindes. Schließlich begibt sich das Jugendamt auf die Suche nach einem Kind, das vermittelt werden kann.

Ataie sagt: „Unsere Haltung ist: Das Kind muss nicht zur Familie passen. Sondern die Familie muss zum Kind passen.“ Es folgen mehrere Kennenlern-Termine. Bei einem Säugling kann es wenige Tage dauern, bis er in der Familie ist, bei älteren Kindern können wenige Wochen bis hin zu in der Regel ein, zwei Monaten vergehen. Der Aufnahme müssen alle Beteiligten zustimmen.

Die finanzielle Unterstützung für Pflegeeltern variiert von Bundesland zu Bundesland. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge empfiehlt für das Jahr 2024 einen Erziehungsbetrag plus Pauschalbetrag für Sachaufwand von insgesamt circa 1.150 Euro monatlich, für ältere Kinder gestaffelt mehr. Hinzu kommen Zuschüsse, wenn ein Kind einen erhöhten Pflegebedarf hat, etwa aufgrund einer Behinderung. Das Jugendamt hat einen Spielraum zur Gestaltung des Beitrags.

Schöne Momente und Herzschmerz

Wie sich ein Kind in einer Pflegefamilie entwickelt, ist nicht absehbar – auch mit Blick darauf, was in der Schwangerschaft und danach passiert ist. Ataie sagt: „Wir beobachten in den vergangenen Jahren, dass Drogenproblematik, Alkoholmissbrauch oder auch die psychischen Erkrankungen eine Tendenz nach oben haben.“ Bei einem Säugling stellten sich Krankheiten, Auffälligkeiten teils erst Jahre später heraus. Jugendämter und freie Träger klären Pflegefamilien darüber auf und bereiten sie darauf vor, so gut es geht. Ein Punkt, der manche Interessierte von einer Pflegeelternschaft abhält, ist, dass Kinder in bestimmten Fällen – wenn der Kinderschutz eingehalten wird – wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren können.

Verschiedene Lobby-Organisationen setzen sich für die Rechte von Pflegefamilien und -kindern ein. So fordert die „Allianz für Pflegekinder“ ein Pflegekindergesetz und legte dem Familienministerium im März 2024 die Eckpunkte dazu vor. Christian Clasen, Mitinitiator der Organisation, erklärt im Gespräch mit PRO einige Hauptforderungen des Papiers: Pflegefamilien haben in der Regel eine schwache rechtliche Handhabe für ihr Pflegekind. Für alltägliche Entscheidungen wie die Schulwahl oder eine Zahnspange benötigen sie die Zustimmung der leiblichen Eltern oder des rechtlichen Vertreters. Dies sei „realitätsfern“, meint Clasen.

„Die Zustimmungspflicht sollte in eine umfangreiche Informationspflicht verändert werden.“ Die Organisation wünscht sich zudem, dass die rechtliche Gewissheit geschaffen wird, damit ein Pflegekind „nach einer hinreichenden Verweildauer in einer Pflegefamilie bis zur Volljährigkeit in der Familie bleibt“. Weiterhin fordert die Initiative einen kürzeren, verschlankten Adoptionsprozess „nach einem jahrelangen Aufenthalt des Kindes in einer Pflegefamilie“. Außerdem soll das Kind den Nachnamen der Pflegeeltern annehmen und diese sollen die Möglichkeit haben, dem Pflegekind etwas zu vererben oder zu schenken, ohne dass die leiblichen Eltern Zugriff darauf haben.

Ataie erinnert sich gern an besonders schöne Momente seiner Arbeit. Ein Paar, das selbst keinen Nachwuchs bekommen konnte, nahm über den Elisabeth-Verein ein Pflegekind auf: „Sie sind nicht nur mit dem Kind total glücklich und geben ihm ein gutes Zuhause, sondern sind auch mit der leiblichen Familie in gutem Kontakt. Das ist der Wunsch, eine solche Konstellation zu haben, aber leider nicht immer üblich.“

Bei den Offenbachs vom Anfang des Textes kümmert sich die ganze Pflegefamilie um den kleinen Paul. Geborgenheit, Stabilität und Liebe schenken ihm nun seine Pflegeeltern sowie deren zwei leibliche Kinder. Die Beiden haben ihren Pflegebruder ins Herz geschlossen, lieben es, mit ihm zu spielen und ihm das Fläschen zu geben. „Wir danken Gott für unser drittes Kind“, sagt das Ehepaar. Die Familie erlebt den Zuwachs als Bereicherung und ein wahres Geschenk.

Anfang des Jahres musste Paul aufgrund eines Virus-Infekts mit Pflegemutter Kerstin für eine Woche ins Krankenhaus. Seit dieser Zeit der Abwesenheit spührt man die beiden Kindern ihre Dankbarkeit über den kleinen Bruder noch deutlicher ab – und sie drücken diese auch immer wieder im Gebet aus. So auch an dem Abend des Sonntags im Juli: Die ganze Familie Offenbach kuschelt sich auf ihrem roten Sofa im Wohnzimmer zusammen, lässt den Tag Revue passieren. Jeder darf sagen, wofür er dankbar ist. „Danke, dass Paul bei uns ist!“ beten die beiden älteren Kinder jeweils. Baby Paul streicheln sie dabei über die Wange und den Bauch und halten ihn dabei liebevoll in ihrer Mitte.

Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 4/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.

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