Unliebsame Berichterstattung wird weltweit immer mehr unterdrückt

Die Lage der Pressefreiheit war 2022 so instabil wie seit langem nicht. Das geht aus der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ hervor. Krisen, Kriege und die anhaltende Ausbreitung des Autoritarismus haben zum Status quo geführt.
Von Johannes Blöcher-Weil
In 70 Prozent aller Länder weltweit können Journalisten ist die Arbeit für Journalisten problematisch

In Russland wird die unabhängige Berichterstattung fast vollständig unterdrückt. In der Türkei werden Medienschaffende massenhaft festgenommen. Und in vielen anderen Ländern wächst die Aggression gegenüber Journalisten. Für „Reporter ohne Grenzen“ und deren Rangliste der Pressefreiheit ist es ein Indiz dafür, „wie volatil die weltweite Lage in einer Zeit von Krisen, medienfeindlicher Hetze und Desinformation ist“.

„Die Aggressivität gegenüber Medienschaffenden steigt weiter. Viele Regierungen und gesellschaftliche Gruppen versuchen, kritische Berichterstattung zu unterbinden. Erschreckend ist, dass die Zahl der Übergriffe in Deutschland auf ein Rekordhoch gestiegen ist“, sagte RSF-Vorstandssprecher Michael Rediske. Er warnte davor, dass Desinformation die Oberhand behalte.

Laut aktuellem Jahresbericht ist die Lage der Pressefreiheit in 31 Ländern „sehr ernst“, in 42 „schwierig“, in 55 gibt es „erkennbare Probleme“, und in 52 ist die Lage „gut“ oder „zufriedenstellend“. Damit seien die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende in rund 70 Prozent der Länder weltweit problematisch. Mit Tadschikistan, Indien und der Türkei sind drei Länder in die schlechteste Kategorie abgerutscht.

Problemfeld „Organisierte Desinformation“

Journalisten würden auf Demonstrationen angegriffen, gezielt ermordet, willkürlich zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder kämen in bewaffneten Konflikten ums Leben. Auch organisierte Desinformation nehme in vielen Ländern zu. Für die Rangliste hat ROG neben der Sicherheit den politischen Kontext, den rechtlichen Rahmen sowie den wirtschaftlichen und soziokulturellen Kontext einfließen lassen.

In Deutschland (21.) habe es so viele physische Angriffe (103) wie nie zuvor auf Journalisten gegeben. 87 Vorfälle hätten in verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten stattgefunden. Viele Medienschaffende erlebten aber auch zunehmende Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus, vor allem, wenn sie über diese Themen berichten.

Spitzenreiter der Rangliste ist zum siebten Mal in Folge Norwegen, gefolgt von Irland, das sich über einen zunehmenden Pluralismus auf dem Medienmarkt sowie über ein neues Verleumdungsgesetz gegen Medienschaffende freuen kann. Auf den weiteren Plätzen folgen Dänemark und Schweden.

China, Vietnam und Nordkorea Schlusslichter

Die drei letzten der 180 Plätze belegen allesamt asiatische Länder. In Vietnam (178.) habe die Regierung ihre „Jagd auf unabhängige Reporterinnen und Kommentatoren fast abgeschlossen“. Wer als Medienschaffender in Haft sitze, erlebe entsetzliche Bedingungen bis hin zu Misshandlungen und Isolation. Kritische Blogger gerieten ins Visier der Behörden, weil sie die einzigen Quellen für unabhängig recherchierte Informationen seien.

Auf dem vorletzten Platz liege mit China „einer der größten Exporteure von Propaganda“. In keinem Land säßen mehr Journalisten wegen ihrer Arbeit im Gefängnis. Staats- und Parteichef Xi Jinping sei es gelungen, „seinen vor zehn Jahren begonnenen Feldzug gegen den Journalismus“ fortzusetzen. Wenig überraschend bleibt Nordkorea auf dem letzten Platz, wo die Regierung keinerlei unabhängige Berichterstattung zulässt.

In Europa hat sich Ungarn um 13 Plätze verbessert, weil es die Lizenz eines unabhängigen Radiosenders erneuern musste und die Regierung Orbáns 2022 die Unabhängigkeit der Medien vorerst nicht weiter bekämpft habe. Positiv sei die Entwicklung in Montenegro (39.), wo der investigative Reporter Jovo Martinovic freigesprochen wurde. Schlusslicht der EU-Staaten ist Griechenland (107.), wo Journalisten auf vielen Wegen vom Geheimdienst überwacht würden.

In Russland fast sämtliche unabhängige Medien verboten

In der Türkei (165.) habe Präsident Erdogan die „Daumenschrauben für die Presse noch einmal angezogen“. Neue Anklagen, Massenverhaftungen und das „Desinformationsgesetz“ nennt ROG als herausragende Beispiele. Russland (164) habe seit dem Angriff auf die Ukraine fast „sämtliche unabhängige Medien verboten, blockiert und als sogenannte ausländische Agenten eingestuft“. Bei der Verbreitung angeblicher Falschnachrichten drohe Journalisten bis zu 15 Jahre Haft.

In Asien und im Pazifik herrschten nach wie vor einige der schlimmsten Regime für Medienschaffende. In Myanmar (173.) halte der Terror gegen Journalisten auch zwei Jahre nach dem Militärputsch an. In Afghanistan (152.) bedrohten und verfolgten die Taliban Medienschaffende und zensierten Berichte. Das sogenannte Sicherheitsgesetz in Hongkong (140.) habe den rechtlichen Rahmen von Journalisten weiter verschlechtert.

Besorgniserregend sei auch die Situation in Indien (161.), wo reiche und regierungsnahe Geschäftsleute Medien übernommen hätten. Das gefährde den Pluralismus und treibe viele Journalisten in die Selbstzensur. Positiv ausgewirkt auf die Pressefreiheit hätten sich demokratische Regierungswechsel wie in Australien (27, Verbesserung um zwölf Plätze) und Malaysia (73, Verbesserung um 40 Plätze).

Wenn Journalisten einfach hinter Gittern verschwinden

Im Nahen Osten und in Nordafrika stuft ROG die Lage der Pressefreiheit als „sehr ernst“ ein. Vor allem im Iran (177.) habe sich die Situation seit dem gewaltsamen Tod der kurdischen Studentin Jina Mahsa Amini nochmals verschärft. In Saudi-Arabien lasse der mächtige Kronprinz Mohammed bin Salman Medienschaffende für viele Jahre hinter Gittern verschwinden oder verbiete ihnen auszureisen. Auch andere Golfmonarchien überwachten und zensierten die Medien, teils mit sehr ausgereiften technischen Mitteln. Eine drakonische Zensur herrsche in Ägypten (166.), wo die Militärdiktatur ihre eigenen Reformversprechen beständig ignoriere.

Der amerikanische Doppelkontinent bleibe nach wie vor eine gefährliche Region für Medienschaffende. 2022 sei fast die Hälfte aller weltweit getöteten Journalisten dort ums Leben gekommen. Verbessert habe sich die Lage in Brasilien nach dem Ende der Präsidentschaft Jair Bolsonaros (+ 18 Plätze). Dessen Nachfolger Lula da Silva habe schon sehr früh eine nationale Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten geschaffen. Die Sicherheitslage bleibe trotz allem prekär.

Auch in den USA (45.) gebe es nach wie vor eine hohe Gewaltbereitschaft gegenüber Medienschaffenden. Rund 30 physische Übergriffe und ein Dutzend Festnahmen wirkten sich negativ auf die Platzierung aus. In Mexiko (128.) wurden 2022 mindestens elf Medienschaffende wegen ihrer Arbeit getötet. Mit 28 verschwundenen Journalisten hält das Land einen weiteren traurigen Rekord. In Kuba (172.) seien unabhängige Medien noch immer in weiter Ferne.

Auf dem afrikanischen Kontinent stünden Mali (113.) und Burkina Faso (58.) für Regierungen, die Medien als Propagandainstrumente missbrauchten. In der Zentralafrikanischen Republik (98.) würden viele Inhalte der russischen Staatsmedien weitergesendet und prorussische Narrative verbreitet. Die gesamte Sahel-Region drohe zu einer nachrichtenfreien Zone zu werden. Hier sei der Tod von zwei Journalisten bis heute nicht aufgeklärt. Die aktuelle Lage im Sudan dürfte sich dann auf die Ergebnisse im nächsten Jahr beeinflussen.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen