Vor einer Abtreibung ist in Deutschland eine Schwangerschaftskonfliktberatung vorgeschrieben. Die soll dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen, aber ergebnisoffen geführt werden. Die Beratungsstellen sollen Frauen dabei helfen, selbstbestimmt eine Entscheidung zu treffen. Staatlich anerkannte Beratungsstellen dürfen dann den für die Abtreibung zwingend erforderlichen Beratungsschein ausstellen.
In der Sendereihe „exactly“ des MDR will Reporterin Sabine Cygan untersuchen, ob der christliche Verein Kaleb (Kurzform für „Kooperative Arbeit Leben ehrfürchtig bewahren“) in Chemnitz Druck auf Frauen ausübt, wenn diese über eine Abtreibung nachdenken und Beratung wünschen. Für die Reportage „Schwangere unter Druck – Wie ein Verein in Sachsen Abtreibungen verhindern will“ hat die MDR-Reporterin dazu die Beratungsstelle „undercover“ aufgesucht und sich als Ratsuchende ausgegeben, um sich selbst ein Bild der Beratung zu machen.
Kaleb bezeichnet sich auf seiner eigenen Website als „überparteiliche und überkonfessionelle Vereinigung, die sich in ihren Wertvorstellungen christlicher Ethik und Verantwortung verpflichtet weiß“. Vorwürfe gegen Kaleb, Frauen fühlten sich dort unter Druck gesetzt und zur Fortführung der Schwangerschaft gedrängt, sind der Anlass für Cygans Recherche. Die Beratung hat nach Cygans eigener Einschätzung zum Ziel, „schwangere Frauen davon abzubringen, eine Abtreibung durchführen zu lassen“. Das ist keine überraschende Erkenntnis. Denn auf der Webseite des Vereins lautet es unmissverständlich und klar: „Leben – und zwar spezifisch menschliches Leben – beginnt mit der Empfängnis und ist von da an schutzwürdig und – bedürftig. Wir lehnen daher Schwangerschaftsabbrüche vom Grundsatz ab.“
Kaleb informiert transparent über seine Werte und Ziele
Cygan erklärt, dass Kaleb den erforderlichen Beratungsschein für eine Abtreibung gar nicht ausstellt. Auch das sagt Kaleb-Chemnitz auf der eigenen Webseite. Wer ohnehin entschlossen ist, eine Abtreibung durchzuführen, benötigt den Schein und wird sich dann kaum an Kaleb wenden. Wer dennoch dorthin geht und sich grob informiert hat, sollte wissen, in welche Richtung dort beraten wird. So stellt sich dem Zuschauer die Frage: Was will Cygan dann überhaupt herausfinden?
Laut dem Beitrag wird der Verein vom sächsischen Sozialministerium mit 69.000 Euro pro Jahr gefördert und ist als Beratungsstelle auf der Website listet. Das „überrascht“ die Journalisten, denn der Verein gehöre zur „Lebensschutzbewegung“. Deren Ziel sei es, „nach Gottes Gedanken ungeborenes menschliches Leben zu schützen und zu bewahren.“ Dass das Ministerium die „Diakonie Stadtmission Chemnitz e. V.“ dagegen explizit als „Lebensberatungsstelle“ an gleicher Stelle führt, weckt dagegen nicht die Neugier des MDR.
Kaleb selbst macht keinen Hehl aus seiner Grundüberzeugung. „Wir wollen das Anliegen des Schutzes der ungeborenen Kinder und ihrer Eltern in unserer Gesellschaft voranbringen und somit zu einem Bewusstseinswandel bei unseren Mitmenschen beitragen“, lautet es auf der Homepage der Vereinszentrale. Der Verein informiert auf seinen Webseiten der Zentrale und des Zweiges Chemnitz vollkommen transparent über seine Ziele und Werte. Um die herauszufinden brauchte es keine verdeckte Recherche. Weil aber genau die angestrengt wird, wird der Kaleb-Beratung ein Etikett von Intransparenz, von etwas Verruchtem, angeheftet.
Achtung: Konservatives Familien- und Rollenbild!
Weil der Verein in zwei nicht näher genannten Publikationen zudem als „evangelikal“ bezeichnet wird, wendet sich die Reporterin an die SPD-Stadträtin Julia Bombien. Die gibt einen Einblick in ihre Erfahrung mit evangelikalen Christen in Chemnitz. In dem Gottesdienst der Lutherkirche der Stadt war Bombien nach eigenem Bekunden „einmal und nie wieder“. Dass in der Kirchengemeinde ein konservatives Rollen- und Familienbild vertreten wird und Gottesdienstbesucher beim Singen „die Hände nach oben“ heben, genügt offenbar als Erklärung für evangelikal gesinntes Christentum.
„Dass durch Vereine wie Kaleb, aber auch andere, die hier aktiv sind, einfach dieses traditionelle, dieses alte konservative Weltbild, Rollenbild, Familienbild weitergetragen wird“, sieht Bombien dagegen als eine Gefahr an. Was am Festhalten an Traditionen und einem konservativen Familienbild gefährlich sein soll, wird freilich nicht erläutert. Die Zuschreibung durch die SPD-Politikerin genügt in der Reportage als Begründung. Ein konservatives Familien- und Rollenbild zu vertreten reicht offenbar aus, um unter Generalverdacht gestellt zu werden. Was die SPD-Stadträtin zudem zur Expertin über Nuancierungen christlicher Religiosität macht, bleibt ebenfalls offen. Und ob die Gemeinde überhaupt mit Kaleb Chemnitz in Verbindung steht, wird nicht erörtert. Hier springt die Reportage zu kurz.
Im Interview schildert eine anonyme Gesprächspartnerin – sie ist Teilnehmerin einer Demo gegen Kriminalisierung von Abtreibung in Dresden und in einer nichtgenannten Beratungsstelle tätig – Erfahrungen von Frauen, die sich bei Kaleb Chemnitz haben beraten lassen. Eine Frau will eine „klare Stigmatisierung“ durch Kaleb erfahren haben. Die Kaleb-Beraterin soll „zu Gott gebetet haben für das Leben“ – das habe die Frau „im Nachgang schwer traumatisiert“.
In dem Beitrag kommen nur die Kritiker des Vereins zu Wort. Dass sich für eine ausgewogene Berichterstattung keine befürwortende oder unterstützende Stimme hat finden lassen, erscheint unrealistisch. Der Verein unterhält mehr als 30 Zweigniederlassungen im gesamten Bundesgebiet und dokumentiert Fälle, in denen Frauen sich gegen eine Abtreibung entschieden haben und darüber im Nachgang glücklich sind. Das hätte, bei aller gegebenenfalls berechtigten Kritik, mit zum Bild gehört. So erweckt der Beitrag den Eindruck, als wolle er Kaleb bewusst schlecht dastehen lassen. Auf ein Interviewgesuch des MDR ist Kaleb aber offenbar nicht eingegangen. Auch auf einen Fragenkatalog hat der Verein nach Angaben der Journalistin nicht reagiert.
Wissenschaftlerin war für „pro familia“ tätig
Nach dem Gespräch mit der Stadträtin macht sich die Reporterin zum Beratungsgespräch bei Kaleb auf. Unter dem Vorwand, ungewollt schwanger, ohne Job, Geld und Partner zu sein, geht Cygan in das Gespräch und protokolliert anschließend alles aus dem Gedächtnis. Relativ schnell sei ihr klar geworden, resümiert Cygan, in welche Richtung das 90-minütige Gespräch führen würde. Was hatte sie erwartet, wenn sie eine dem Lebensschutz verpflichtete Organisation aufsuchte? Die Ansichten der Beraterin hätten sie geschockt, sagt sie. Immerhin: Die Dame sei sehr freundlich gewesen. „Nach dem Gespräch fühlst du dich total schlecht, wenn du diese Entscheidung triffst“, fasst die Reporterin ihre Gefühlslage nach dem Gespräch zusammen.
Ulrike Busch, emeritierte Professorin für Familienplanung der Hochschule Merseburg, bewertet das Beratungsgespräch dann anhand des Gedächtnisprotokolls kritisch. Argumentationen der Beraterin kenne man aus dem Kontext „fundamentalistischer Abtreibungsgegner“. Die meisten Frauen integrierten einen Schwangerschaftsabbruch jedoch sehr gut in ihr Leben. Das belege eine US-amerikanische Studie. 95 Prozent der Frauen hätten demnach ihre Entscheidung zum Abbruch nicht bereut. Das Gespräch bei Kaleb sei nicht „ergebnisoffen“ geführt worden, zentral sei immer wieder die eigene Botschaft transportiert worden, dass ein Embryo bereits ein Kind, ein Mensch sei und der Schwangerschaftsabbruch diesem Menschen das Recht versage, zu leben. Impliziert stehe der Tötungsvorwurf im Raum.
Dass die Wissenschaftlerin Mitglied im Ausschuss Schwangeren- und Familienhilfepolitik beim Bundesverband und Vorsitzende eines Landesverbandes von „pro familia“ war, unterschlägt der MDR-Beitrag. Auf diesen Umstand hätte die Reportage hinweisen müssen. Denn „pro familia“ befürwortet ein Recht auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch gänzlich ohne Indikation – und stellt Beratungsscheine aus.
Geschilderter Fall hat nichts mit Kaleb zu tun
Eine andere Gesprächspartnerin, die sich als Schwangere an den Verein „pro femina“ gewandt hatte, berichtet von „hinhalten“ und „Zeit schinden“ bei der Beratung. Dass auch diese Organisation das Ziel verfolgt, ungeborenes Leben zu schützen, und keinen Beratungsschein ausstellen darf, habe die Frau erst nicht bemerkt. Sie habe im Internet nach „pro familia“ gesucht, sei aber fälschlicherweise bei „pro femina“ gelandet. Hier geht die Reportage gänzlich in die Irre, da der geschilderte Fall nichts mit einer Beratung durch Kaleb Chemnitz zu tun hatte und die Erwähnung somit einen falschen Eindruck erweckt.
MDR-Journalistin Sabine Cygan hat sich einem fraglos schwierigen Thema gestellt, das auf allen Seiten emotional hochgradig aufgeladen ist. Das ist anzuerkennen, weil mutig. Kritik an der Beratungspraxis von Kaleb speist Cygan einmal aus eigener Erfahrung des Undercovereinsatzes. Das Empfinden der Journalistin ist vorbehaltlos zu akzeptieren und sollte dem Verein in Chemnitz über seine Beratungspraxis nachdenklich stimmen. Dass Befürworter der Chemnitzer Beratung und auch Erfolge der Vereinsarbeit vollkommen fehlen, nimmt der Reportage leider die Glaubwürdigkeit. Auch, dass eine Wissenschaftlerin ohne ihren direkten Bezug zu einer Organisation, die ebenfalls Schwangere berät, quasi als neutrale Expertin vorgestellt wird, stellt eine erhebliche Verkürzung dar. Cygan äußert sich nie verächtlich über den Verein, seine Beraterin oder evangelikal gesinnte Christen. Leider versäumt die Reportage aber darzustellen, dass für viele Christen das menschliche Leben, am Anfang und am Ende seiner Existenz, als sehr hoher, schützenswerter Wert gilt.
Wenn der Beitrag kritisiert, dass Kaleb nicht ergebnisoffen berät, dann muss sich die Reporterin die Frage stellen lassen, ob sie ergebnisoffen an ihre Recherche gegangen ist. Der Beitrag jedenfalls erweckt diesen Eindruck nicht. Er zeichnet kein differenziertes Bild – und es ist nicht zu erkennen, dass ein solches überhaupt angestrebt wurde. Denn das, was die verdeckte Recherche als kritikwürdig vermeintlich aufdeckte, war der Öffentlichkeit ohnehin bereits zugänglich.
MDR „exactly“: „Schwangere unter Druck – Wie ein Verein in Sachsen Abtreibungen verhindern will“, vom 10.10.2021
7 Antworten
Es tut sehr weh, dass es nur selten gelingt, den Wert und die Liebe zum Leben herauszustellen und was Christen antreibt. Als wenn eine unsichtbare Wand verhindert, wenigstens neutral das anzuerkennen.
Aber deshalb braucht es die CHristliche Medininitiative, damit junge Leute dazu ausgebildet werden. So neutral wie möglich zu berichten und Dinge oder Umstände darzustellen. Damit Frieden und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft gefördert wird.
Ich hoffe sehr, dass wir in unserer Gesellschaft wieder dazu kommen in guter Form Tolerant zu sein, nämlich den anderen nicht zu verurteilen, aber auch nicht seiner Meinung sein zu müssen. Der Ton macht die Musik und der ist im MOment äußerst schräg.
Danke für die netten Worte 🙂 .
Grüße, die PRO-Redaktion
Super, danke für so klare und wertschätzende Worte in alle Richtungen. Guter Job.
„Nach dem Gespräch fühlst du dich total schlecht, wenn du diese Entscheidung triffst“
Ja soll man sich gut fühlen, wenn man plant, einen Mord zu begehn?
Die Frage der Schuld wird nicht erörtert in diesem Film, nicht mal angesprochen. Der Schöpfer spielt überhaupt keine Rolle. Das Kaleb Angebot ist doch super. Das Lebensrecht des Kindes ist außen vor. Ich würde gerne mit der Redakteurin mal einfach diese ausgelassenen Punkt einfach mal ansprechen. Ist die Zeit ohne Gott die Neuzeit? Sind konservative Werte altmodisch? Sind Werte der Vergangenheit alles Vernachlässigbar? Mich erschüttert die Neuzeit, wo der Mensch ohne Anbindung an Gott das Maß der Dinge ist.
Danke für diesen absolut ausgewogenen Kommentar – der einer journalistisch schlechten und voreingenommenen Reportage sogar noch ein paar postitve Seiten abgewinnt. Hier könnte sich Frau Cygan nicht nur eine Scheibe abschneiden. Es ist schon tragisch, dass es derart große Vorbehalte gegenüber Menschen gibt, denen das Retten von ungeborenen Leben wichtig ist. Als gäbe es nicht bessere Fronten in dieser Welt, an denen es sich zu kämpfen lohnte!
Danke für Ihr aufklärendes und mutiges Statement. Der MDR sollte sich mal fragen, wenn und warum er da zum Volontariat beschäftigt. Die ebenso einseitige Quelle, übrigens entstand dieses im Jahr 2020 auch an der FH Merseburg, findet sich hier: https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/34916/1/M%C3%BCllerSara_Religi%C3%B6se_Akteure_innerhalb_der_Sozialen_Arbeit_Evangelikale_Christinnen_im_Kontext_der_Schwangerschaftskonfliktberatung.pdf#page26
Der Wind gegen Christen und ihre Werte wird rauer. Aber das ändert nichts daran, für das Leben einzustehen.