Und sie wächst doch

Immer weniger Menschen besuchen Kirchen. Doch hier und da gelingt es Gemeinden, gegen den Trend zu wachsen. Woran liegt das? Eine Spurensuche.
Von Anna Lutz

Alles beginnt mit der Regenbogenlampe. Erst wenn sie leuchtet, kann es losgehen in der Kinderkirche Blankenburg. Dutzende Drei- bis Zehnjährige wetteifern darum, wer dieses Mal den Schalter drücken und das Licht anmachen darf, bevor die Gruppe in einem Stuhlkreis um eine gestaltete Mitte Platz nimmt. Bunte Tücher flankieren die nun strahlende Lampe zu Füßen der Kinder, daneben steht eine Metalllaterne mit Blockkerze. Die Blicke wenden sich vom Geschehen auf dem Boden zu dem überdimensionalen Bildschirm, der die Runde schließt. Da ertönen schon die ersten Gitarrenakkorde und die Liedtexte erscheinen. „Ich trage einen Namen, bei dem der Herr mich nennt. Du rufst mich in der Taufe, damit auch ihr mich kennt“, singen Jungen, Mädchen, Mitarbeiter und Eltern gemeinsam, schief und fröhlich, laut und durcheinander. Es folgen eine Bibelgeschichte, Bastelarbeiten und – ganz wichtig – gemeinsames Kuchenessen.

Im Januar 2023 gründeten Anika und Kamil Freuck die sogenannte KiKi. Mitten im atheistisch geprägten Berlin, genauer gesagt im Randstadtteil Blankenburg, ganz im Osten. Zu den regulären Gottesdiensten der evangelischen Kirchengemeinde von Pfarrer Hagen Kühne kommen manchmal 15, manchmal 30 oder 40 Erwachsene. Schon beim ersten Kindergottesdienst erreichte das Ehepaar Freuck 35 Kinder, begleitet von Eltern, die zum Teil selten oder nie in die Kirche gehen. Tendenz: wachsend.

„Ohne die Kinder wären wir nicht in der Kirche gelandet“

Einer der Väter ist Christoph. Gemeinsam mit seiner Frau Sara arbeitet er heute bei der KiKi mit, hat sogar einen regenbogenfarbenen Kuchen zum Jahrestag der Gründung gebacken. Mit Kirche konnte Christoph lange Zeit wenig anfangen, an den Religionsunterricht in der Schule etwa denkt er ungern zurück. Heute, ist es anders: „Ohne die Kinder wären wir nicht in der Kirche und der KiKi gelandet“, sagt er. Christoph überlegt zudem, sich taufen zu lassen. Seine Frau Sara ist in der Zwischenzeit der evangelischen Kirche beigetreten. Durch die KiKi mit seinen eigenen Kindern habe er mehr Zugang zu den biblischen Geschichten gefunden.

Hin und wieder geht er seitdem auch in die regulären Gottesdienste, freut sich vor allem an der Gemeinschaft im KiKi-Team und betont das Besondere an Kirche im Vergleich etwa zum Sportverein: „In der Kirche bleiben alle im Team. Niemand muss auf die Auswechselbank.“ Werte wie diesen, nämlich, dass jeder Mensch wertvoll und geliebt sei, wolle er auch seinen Kindern weitergeben. Und er ist nicht der einzige. Innerhalb weniger Monate wuchs das Team der KiKi auf rund ein Dutzend Erwachsene, mittlerweile haben Freucks eine zweite Gruppe für ältere Kinder eröffnet. Und auch der Gottesdienst ist voller als zuvor.

Eine Kinderkirche in einem Berliner Ost-Randbezirk, der aus dem Stegreif Dutzende Eltern mit Kindern erreicht – ist das eigentlich der Rede wert? Ja, ist es. Denn die Kirche schrumpft, und zwar rapide. Allein im Jahr 2023 verlor die Evangelische Kirche in Deutschland über eine halbe Million Mitglieder, knapp 400.000 davon durch Austritte. Nur noch 22 Prozent der Deutschen sind Teil einer Landeskirche. Im Jahr 2022 sank die Summe der katholischen und evangelischen Kirchenmitglieder unter die 50-Prozent-Marke. Noch 1990 lag ihr Anteil bei über 70 Prozent.

Foto: Kinderkirche Blankenburg
Basteln, singen, Kuchen essen und beten: In die Kinderkirche in Blankenburg kommen Kinder mit ihren Eltern – auch wenn die mit Glauben und Christentum eigentlich nicht viel zu tun haben.

Fragt man Experten nach den Gründen, dann fallen oft Stichworte wie Missbrauch, Säkularisierung, Individualisierung. Der Rektor der CVJM-Hochschule, Tobias Faix, nennt gegenüber PRO noch einen anderen, viel wichtigeren Grund: „Es geht vor allem um Bindung.“ Menschen träten aus, weil sie sich ihrer Kirche entweder nie verbunden gefühlt hätten, oder weil sie sich von ihr entfremdeten. Manche würden enttäuscht, andere verlören schlicht den Kontakt oder gar den Glauben. Wieder andere hätten Probleme mit ethischen Positionen der Kirche. Gibt es ein Mittel gegen Entfremdung? Es liegt auf der Hand: Beziehung. Deshalb rät Faix Kirchen etwa dazu, verständlich zu kommunizieren. Transparent und integer zu sein. Und nicht zuletzt: Teilhabemöglichkeiten für die Mitglieder zu schaffen.

Letzteres ist wohl ein entscheidender Faktor für die Kirchengemeinde in Blankenburg. „Es hat eine neue Lebendigkeit Einzug gehalten“, sagt Pfarrer Kühne, wenn man ihn auf die Kinderkirche anspricht. „Man könnte das missionarisch nennen.“ Weil sich viele ehrenamtlich einbrächten, sei zwar nicht alles bis ins letzte Detail perfekt. „Aber da entsteht eine besondere Wärme, wenn jemand etwas selbst tut.“ So beobachtet er etwa beim ganzen KiKi-Team ein höheres Interesse an geistlichen Fragen. „Nicht nur das Ergebnis ist entscheidend, sondern die Art und Weise des Zustandekommens“, fasst er das zusammen. Also: Nicht das innovativste Angebot zieht Menschen in die Kirche. Sondern die Möglichkeit, selbst zu gestalten und mitzuarbeiten.

Braucht es also gar nicht die groß aufgezogenen Angebote, professionelle Musik, Lichtshow und Zielgruppengottesdienste, um Kirchen gegen den Trend wachsen zu lassen? Tun es vielmehr auch altbewährte Konzepte wie eine gute Kinder- und Jugendarbeit, Chor oder kirchliches Blasorchester? Ist die Zeit der Großevangelisationen vorbei? Jürgen Schmidt vom Verein „proChrist“ widerspricht: 49 Prozent derjenigen, die zum Glauben kommen, gäben an, evangelistische Veranstaltungen hätten dabei eine Rolle gespielt. Beziehungen seien ohne Zweifel ein wichtiger Faktor, aber nicht jeder sei sprachfähig in Sachen Glauben. Da helfe es, wenn man seine Bekannten oder Freunde zu Veranstaltungen wie dem „Hoffnungsfestival“ einladen könne, bei dem auch prominente Menschen von ihrem Glaubensleben berichten. „Wir brauchen beides, Beziehungen und Evangelisationsveranstaltungen“, ist Schmidt überzeugt.

„Den einen Gamechanger gibt es nicht“

Für die Studie „Freikirche mit Mission“ aus dem Jahr 2019 hat Philipp Bartholomä von der Freien Theologischen Hochschule (FTH) Gießen wachsende Gemeinden besucht und versucht, die Faktoren zu identifizieren, die Zulauf gerade auch durch bisher unkirchliche Menschen begünstigen. Seine spontane Antwort auf die Frage nach einem Wundermittel klingt wenig ermutigend: „Den einen Gamechanger gibt es nicht.“

Vielmehr sollten Gemeinden ganz grundsätzlich wahrnehmen, wie sehr sich ihre Umgebungskultur in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Bartholomä nennt fünf Faktoren, die Gemeindezulauf und ernsthafte Bekehrungen zum Christentum fördern. Erstens müssten die Kirchen von einer „großen missionarischen Leidenschaft“ beseelt sein. Was aber keineswegs bedeuten soll, dass jedem neuen Gast gleich im übertragenen Sinne die Bibel um die Ohren gehauen wird. Denn „Kontextsensibilität“ ist für ihn der zweite wichtige Faktor. Also die Fähigkeit der Gemeinde, sich auf neue Menschen einzulassen, die Fragen zu beantworten, die sie sich stellen. „Früher hat man gefragt, ob man der Bibel vertrauen kann oder ob die Auferstehung historisch plausibel ist“, sagt Bartholomä, und weiter: „Heute geht es eher um die großen Sehnsüchte: Was bedeutet der Glaube für mein Leben? Wo finde ich Sicherheit? Worauf kann ich hoffen? Wie kann ich gerecht leben?“

Foto: Kinderkirche Blankenburg
„In der Kirche bleiben alle im Team. Niemand muss auf die Auswechselbank.“ Die Kiki setzt wie viele wachsende Kirchenprojekte auf Beziehung. Ein Heilmittel für die schrumpfende Kirche?

Bartholomäs dritter Faktor lautet „Beziehung“. Nur wer authentisch und auch privat mit Menschen außerhalb der Gemeinde zu tun habe, könne bei diesen auch etwas bewegen. „Es braucht Alltagsmissionare“, sagt er. Viertens sollten Gemeinden bestimmte Veranstaltungen „gästesensibel“ organisieren, also so, dass auch für Uneingeweihte verständlich kommuniziert wird und Noch-nicht-Glaubende mit ihren Denkvoraussetzungen, Zweifeln und Fragen vorkommen. Was zu seinem fünften Punkt führt: „Fremdenliebe“. Damit meint er eine gastfreundliche Atmosphäre der Annahme für jeden nach dem Motto: Du bist willkommen, so wie du bist. Wichtig ist ihm dennoch: „Die Veranstaltungen sollten nicht zu einer sozial orientierten Krabbelgruppe werden.“ Das christliche Bekenntnis, Werte und Glaube müssten bei aller Sensibilität für Menschen ohne Kirchenvorwissen spürbar bleiben. „Wo das zusammenkommt, kann auch in unserer Zeit Glaube und Kirche wachsen, egal ob das dann ‚Fresh X‘ heißt, Erprobungsraum, Hauskirche, klassische Gemeindegründung oder einfach Baptistengemeinde.“

Wenn die Regenbogenlampe erlischt, zieht Ruhe ein in die KiKi Blankenburg. In vier Wochen sehen sich Kinder, Eltern und Mitarbeiter hier wieder. Und bis dahin? Manche werden ihren Weg in die Kirche von Pfarrer Kühne finden. Und aufkeimende Beziehungen vertiefen – zu anderen Christen, zur Gemeinde und vielleicht auch zu Gott.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Ausgabe 4/2024 von PRO – das christliche Medienmagazin. Sie können die Ausgabe hier bestellen.

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