Tunesien: „Nagelprobe für den Islam“

Das Mutterland des "arabischen Frühlings" hat gewählt. Tage nach der Wahl steht nun fest: Ausgerechnet eine islamistische Partei hat die Wahlen gewonnen. Nicht nur für die christliche Minderheit könnten das die Vorzeichen einer Tragödie sein.

Von PRO

Neun Monate ist es her, dass die Tunesier ihren Machthaber Zine el Abidine Ben Ali vom Thron warfen. Am Sonntag waren die gut sieben Millionen wahlberechtigten Einwohner aufgerufen, für eine neue Regierung zu stimmen. Die Hoffnung, die viele an diesen historischen Tag geknüpft haben, ist seitdem getrübt. Seit Dienstag steht fest: Die Islamisten haben einen deutlichen Wahlerfolg erzielt. Über 40 Prozent der Stimmen hat die Partei "Ennahdha" von Islamistenführer Rachid Ghannouchi erzielt. Sie gewann damit gegen ihren größten Herausforderer, die sozialdemokratische PDP.

Islamist im Schafspelz?

Die 217 Mitglieder der neuen verfassungsgebenden Versammlung sollen einen neuen Übergangspräsidenten ernennen und ein Grundgesetz erarbeiten. Schon in den letzten Umfragen lag die "Ennahdha" mit bis zu 30 Prozent der Stimmen klar vorn. Sie war unter Ben Ali verboten und ist in der Bevölkerung stark umstritten. Ghannouchi profitiert vor allem davon, dass Ben Ali für traditionsbewusste Muslime ein Hassobjekt darstellte. Der Ex-Machhtaber war für seinen ausschweifenden Lebensstil bekannt und ließ Frauen verfolgen, welche die islamische Kopfbedeckung Hijab trugen. In den vergangenen Monaten versuchte der "Ennahdha"-Spitzenpolitiker alles, um seiner Partei ein modernes Bild zu verpassen und Extremismusängste zu zerstreuen. Worte wie "Gottesstaat" oder "Scharia" nimmt der Vater von sechs Kindern nicht in den Mund, stattdessen redet er viel von Demokratie und Glaubens- und Meinungsfreiheit. Kritiker werfen ihm allerdings Doppelzüngigkeit vor und befürchten eine Radikalisierung der Partei, sollte sie erst einmal an der Macht sein. Vor allem liberale Tunesierinnen sorgen sich. In keinem anderen Land der Region haben Frauen derzeit so viele Rechte.

Über die Wahlbeteiligung am Sonntag gab es zunächst nur ungenaue Informationen. Ein Mitarbeiter der Wahlkommission sagte, dass von den 4,1 Millionen registrierten Wahlberechtigten mehr als 90 Prozent abgestimmt hätten. Zudem gab es aber rund drei Millionen nichtregistrierte Wahlberechtigte. Sie durften ebenfalls in speziellen Wahllokalen ihre Stimme abgeben. Sowohl in Tunesien als auch im Ausland wird die Abstimmung als wichtige Bewährungsprobe für die Revolutionsbewegung in der ganzen arabischen Welt gewertet. Außenminister Guido Westerwelle sprach von einem "historischen Moment, nicht nur für Tunesien, sondern für die gesamte arabische Welt". Die Wahlen seien eine "große Chance".

Angst vor Scharia

Vor allem die Christen im Land müssen nun fürchten, unter einer neuen Regierung zu leiden. Bisher stand der Wechsel vom Islam zu einer anderen Religion gesetzlich nicht unter Strafe, erklärte Romy Schneider, Sprecherin der evangelischen Hilfsorganisation für verfolgte Christen, "Open Doors", gegenüber pro. Doch einem Muslim das Evangelium weiterzusagen, gelte als verbotener Bekehrungsversuch. Ehemalige Muslime könnten zudem ihren Arbeitsplatz verlieren oder würden von ihrer eigenen Familie unter Druck gesetzt, zum Islam zurückzukehren. Von den über 10 Millionen Einwohnern Tunesiens sind 22.800 Christen. Im Weltverfolgungsindex von "Open Doors" belegt Tunesien Platz 37. Schneider rät dennoch zunächst zur Ruhe. "Wir warten nun erst einmal ab", sagte sie.

Von Christen aus Tunesien wisse sie, dass die dortige Minderheit große Angst davor habe, dass ihr Land sich nach der Wahl nicht weiter öffnen könnte. "Ein Gottesstaat wäre nicht nur ein Problem für die Christen, sondern für jeden", sagte Schneider. Pro liegt zudem ein Schreiben eines "Open Doors"-Mitarbeiters aus Tunesien vor. Darin heißt es: "Besonders von der islamischen Partei erwartet man, dass sie viele Stimmen bekommen wird, und die Ideen dieser Partei fürchten die Christen am meisten.(…) "Sie gilt als moderate islamistische Gruppe mit Verbindungen zur Muslimbruderschaft, aber Christen in der Region fürchten, dass sie weniger nationalistisch ist und den Islam mehr ins öffentliche Leben integrieren möchte."

Christen hoffen auf Ägypten und Europa

Für André Stiefenhofer, Sprecher des katholischen Hilfswerks "Kirche in Not", ist die Wahl in Ägypten eine "Nagelprobe für den Islam". Auf Anfrage von pro erklärte er, nun werde sich zeigen, wie demokratiefähig eine islamische Partei tatsächlich sein könne. Tunesien habe vor der Revolution als weitgehend liberal gegolten, auch wenn die christliche Minderheit vor allem gesellschaftlichen Repressionen ausgesetzt gewesen sei. So sei in der Verfassung etwa die Gewissensfreiheit verankert gewesen. Stiefenhofer fürchtet, dass diese nun fallen könnte. In Tunesien stünden sich derzeit zwei Kräfte gegenüber – die Säkularen und die Islamisten. Es sehe so aus, als könnten sich letztere durchsetzen. So beobachtet er etwa "Hardcore-Salafisten", die dort an die Macht drängten. Dennoch plädiert er dafür, zunächst die Wahlen in Ägypten im November abzuwarten. Die könnten eine erhebliche Wirkung auf die "kleineren Nachbarstaaten" haben. Sollten sich die radikalen islamistischen Kräfte jedoch durchsetzen, hofft Stiefenhofer auf ein Machtwort aus Europa. "Die europäischen Politiker waren ja am Anfang sehr begeistert von den arabischen Revolutionen. Da darf man erwarten, dass sie sich jetzt auch mit ökonomischem Druck einmischen, um Schlimmeres zu verhindern." (dpa/pro)

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