In der Debatte um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union hatte sich der türkische Staatschef Erdogan 2010 hinreißen lassen, die EU als einen „Christenclub“ zu bezeichnen. Dem Politiker, für den Polemik kein Fremdwort ist, gingen offensichtlich die Verhandlungen über den Beitritt seines Landes in die EU nicht schnell genug. Nun hat der Regierungschef im regierungsnahen Fernsehsender ATV angekündigt, nach erfolgreichen Kommunalwahlen seiner AKP, die am 30. März stattfinden, eine Sperrung der Internetseiten Facebook und Youtube in Betracht zu ziehen.
Erdogan mag die sozialen Medien nicht. Spätestens, seitdem im Internet immer wieder Korruptionsvorwürfe gegen ihn erhoben werden. Die Videos enthalten heimlich aufgenommene Telefonmitschnitte und entlarven den Premier als „korrupten, raffgierigen Politiker“. Erdogan sieht in den Videos eine Kampagne seines Erzrivalen, des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Der steht auch in Deutschland unter Beobachtung der Öffentlichkeit.
Erdogan offenbart mit seiner jüngsten Äußerung ungeniert den autoritären Charakter seiner Politik. In einem Interview soll Erdogan gesagt haben: „Ich werde nicht zulassen, dass unsere Nation Facebook und Youtube geopfert wird.“ In der Türkei war Youtube bereits in der Vergangenheit mehrfach gesperrt worden, weil dort Videos auftauchten, die den Staatsgründer Atatürk beleidigten.
Über Erdogans Äußerungen entsetzen sich Medienberichten zufolge nicht nur viele Bürger in der Türkei. Auch Präsident Abdullah Gül hat sich zu Wort gemeldet. „Eine Blockade steht nicht zur Debatte“, erklärte er vor Medienvertretern.
Die Aussage Erdogans über ein Verbot von Internetseiten offenbart viel über den Politiker und seine Ansichten über freie Meinungsäußerung. In westlichen Demokratien gehört die Äußerung der eigenen Meinung zu den Grundrechten. Einen EU-Beitritt der Türkei stufen viele Staaten als kritisch ein. Zu Recht, darf man nun annehmen. Der Umgang des Politikers in dem muslimischen Land mit Regierungskritikern sollte ein starkes Signal für alle sein, für die der Beitrittsprozess der Türkei in die EU bislang nicht schnell genug von statten ging. Natürlich, Erdogan ist nicht die Türkei, die Türkei nicht Erdogan. Deswegen ist nun abzuwarten, wieviel Protest die türkischen Bürger ihrem Premier entgegenwerfen. Die Amplitude der Protestwelle möge als Gradmesser für die Demokratiefähigkeit und die EU-Fähigkeit der Türkei dienen. (pro)