Die Ereignisse in Afghanistan sind noch frisch, der Schock über den widerstandslosen Vormarsch der Taliban sitzt tief. „Eine Katastrophe“, sagt der CDU-Abgeordnete Markus Grübel bei einem Empfang der christlichen Hilfsorganisation Tearfund am Donnerstag in Berlin. Er ist der Beauftragte der Bundesregierung für Religionsfreiheit und fragt sich: „Warum diese Fehleinschätzung?“ Auch mit künftigem Blick auf andere Länder müsse man sich fragen: „Hätte man es erkennen können oder müssen, hätte man etwas anders machen müssen?“
Ja, das hätte man, glaubt Nabiela Farouq-Martius, Islamwissenschaftlerin und Projektleiterin bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). „Es ist doch wohl so, dass wir, die sich in den letzten Jahren mehr mit Afghanistan auseinandergesetzt haben, absehen konnten, dass es so kommen könnte und würde.“ Viel früher hätte man sich etwa um die Verfahren für die afghanischen Ortskräfte kümmern können.
Wie geht es weiter?
Statt aufwändiger Bürokratie ist jetzt Eiltempo angesagt, um die gefährdeten Ortskräfte samt Familien in Sicherheit zu bringen. Es gebe die Rechtsgrundlage, auch andere Menschen, die konkret bedroht seien, aus dem Land zu holen, betonte Unionspolitiker Grübel. Das hänge allerdings von vielen praktischen Fragen ab. So müssten diese Menschen erst einmal zum Flughafen kommen und dort klar als solche erkennbar sein, die wirklich dringend Hilfe bräuchten – „alles unter den Augen der Taliban“.
Es sei zumindest möglich, dass sich bei der islamistischen Miliz manches geändert habe, spekulierte Grübel: „Die Taliban agieren geschmeidiger als vor zwanzig Jahren.“ Es gebe hoffnungsvolle Ansätze, leider aber auch anderslautende Berichte über Gewalt. Als Ziel für die nächste Zeit sieht der Regierungsbeauftragte, mit den scheinbar gemäßigten Talibanführern in eine Art Geschäft zu kommen etwa über humanitäre Hilfe.
Religion hat gutes wie schlechtes Potenzial
Nicht nur in Afghanistan scheint Religion oft für viel Unfrieden zu sorgen. Religion habe Potenzial zum Guten wie zum Schlechten, betonte Grübel. „Konflikte sind in der Regel nicht religiös“, sagte er, sie hätten meist politische, wirtschaftliche oder sozioökonomische Hintergründe. „Religion hat das Zeug, diese Konflikte zu verschärfen. Das liegt unter anderem daran, dass Religion Emotionen und Leidenschaft wecken kann.“
Oft würden aus politischen Interessen Religionen gegeneinander aufgehetzt. Dann wirkten diese wie ein Brandbeschleuniger. Doch gleichzeitig könnten Religionen auch Friedensstifter und damit Feuerlöscher sein. „In jeder Religion steckt im Kern eine Friedensbotschaft“, erklärte der CDU-Politiker.
Schnittmengen suchen
Christine Gühne, theologische Referentin bei dem Hilfswerk „Brot für die Welt“, hat mit ihrer Familie länger im Norden Nigerias gelebt. Ihre Erfahrung: Ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Religionen wird auch dann möglich, wenn Menschen sich mit ihrer eigenen Religion auseinandersetzen und Unterschiede zu anderen benennen können. „Religionsbezogene Bildungsarbeit ist unheimlich wichtig, die die Menschen sprachfähig macht.“
Neben den Unterschieden spielen auch die Schnittmengen für ein respektvolles Miteinander eine große Rolle. Martin Knispel, Vorstandschef der gastgebenden christlichen Hilfsorganisation Tearfund Deutschland, berichtete von einem Besuch in Somaliland. In dem von Somalia abgespaltenen, aber noch nicht anerkannten Land ist Tearfund seit Jahren im Einsatz – mit muslimischen Mitarbeitern. Einer von ihnen habe erzählt, seine Freunde hätten ein Problem damit, dass er bei einer christlichen Organisation arbeite. Dessen Antwort jedoch: „Wir haben als Muslime und Christen eine große Schnittmenge: Wir wollen helfen, dass die Menschen besser leben.“
Das einfache Volk im Blick haben
Das Fazit der Diskussionsrunde: Religion spielt in der Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle und sollte noch viel mehr in entsprechenden Hilftsprojekten verankert werden. Oft fehle allerdings der nötige Einblick in Hierarchien und Strukturen, warnte Gühne. Ungewollt könnten Helfer von außen dann einen Konflikt sogar noch verschärfen, wenn sie etwa einen Würdenträger einem anderen vorzögen.
Zudem ist die Referentin der Ansicht: Wer sich nur auf die Ebene der religiösen Führer und offiziellen Repräsentanten beziehe, bekomme ein verzerrtes Bild. Denn ihr Denken unterscheide sich häufig ganz erheblich von dem der Basis. „Wir kommen nicht drum herum, uns damit auseinanderzusetzen und ernst zu nehmen, was die Sinn- und Wertehaltungen der ganz normalen Menschen sind.“ Hochdekorierte Würdenträger, die auf internationalen Konferenzen sprächen, seien das eine. Authentisch werde es aber erst „mit den Menschen auf der Straße und in der Nachbarschaft, was sie bewegt und was sie denken.“
Von: Christina Bachmann