Die erste Hälfte seines Lebens war für John Ronald Reuel Tolkien nicht leicht. Als er vier Jahre alt war, starb sein Vater, als er zwölf war, starb seine Mutter. Er verliebte sich unsterblich in die drei Jahre ältere Edith Bratt, doch aus der Liebe sollte zunächst nichts werden. Er musste als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen und an der Somme in Frankreich eine der größten und grausamsten Schlachten dieses Krieges miterleben.
Als Anfang der Sechzigerjahre in den USA eine unautorisierte Kopie von „The Lord of the Rings“ aus seiner Feder erschien, löste sie eine Kultbewegung unter den Studenten aus. Weitere bekannte Fantasywerke Tolkiens sind „Der Hobbit“ (1937), „Das Silmarillion“, „Nachrichten aus Mittelerde“ (beide posthum erschienen) und unzählige Kinderbücher wie „Bauer Giles von Ham“ (1949). Als ab 2001 in drei Filmen die Geschichte von „Der Herr der Ringe“ und ab 2012 „Der Hobbit“ bildgewaltig im Kino nacherzählt wurde, löste das einen neuen Tolkien-Boom aus.
Ein Träumer und ein Forscher
Anstatt zu versuchen, Tolkiens umfangreiches und vielseitiges Leben in einen einzigen Film zu fassen, beschränken sich die Macher auf drei wesentliche Aspekte seiner Jugend: Seine Freundschaften im „Tea Club, Barrovean Society“ (T.C.B.S.), seine große Jugendliebe Edith Bratt (zauberhaft gespielt von Lily Collins) und seine Erlebnisse an der Front. Die Kameradschaft, die „Allianz“, die er mit seinen drei Freunden im Club hatte, war prägend für Tolkien, der schon früh Vater und Mutter verlor. In diesem Bund, der an den „Club der toten Dichter“ (1989 als Film im Kino) erinnert, tauschen die vier Freunde zunächst ihre pubertären Träume, später aber auch ihre Faszination für Literatur, Poesie und Kunst miteinander aus.
Der Katholik, der C.S. Lewis zum Glauben brachte
Die Anknüpfungspunkte zum christlichen Glauben sind im Film rar gesät. Das ist schade, denn Tolkien war sehr gläubig. Seine Mutter war im Jahr 1900 gegen den Willen der Eltern zum Katholizismus konvertiert und erzog John und seine Geschwister in diesem Glauben. Später brachte Tolkien den irischen Literaturwissenschaftler und Agnostiker C.S. Lewis, mit dem er befreundet war, dazu, Christ zu werden. Der neu gefundene Glaube hatte großen Einfluss auf Lewis’ Buchreihe „Die Chroniken von Narnia“, das ebenfalls zu einem großen Verkaufsschlager und später zum Kinohit wurde. Lewis wiederum ermutigte seinen Freund dazu, die „Der Herr der Ringe“-Bände zu vollenden, und gilt unter Tolkien-Experten als eigentlicher „Geburtshelfer“ der Trilogie. Von der Freundschaft mit C.S. Lewis ist im Film „Tolkien“ leider nichts zu sehen.
In einem Interview kurz vor seinem Tode sagte Tolkien: „Ich bin ein überzeugter römisch-katholischer Christ.“ Tolkiens ältester Sohn, John Francis Reuel (1917–2003) wurde 1946 zum katholischen Priester geweiht, und er las bei der Beerdigung seines Vaters die Messe. Eine nicht unwichtige Rolle spielt im Film der römisch-katholische Priester Pater Francis Morgan, der den jungen Tolkien seit dem Tod von dessen Mutter beim Aufwachsen begleitet. Gespielt wird er von Colm Meaney, der manchem bekannt sein dürfte als Chefingenieur Miles Edward O’Brien aus dem Star-Trek-Universum.
Zum Glück haben die Filmemacher der Versuchung widerstanden, das Biopic mit zu vielen Anspielungen auf die ikonischen Figuren aus „Der Herr der Ringe“ und „Hobbit“ zu überfrachten. Nur selten, und dann auch nur ganz sachte, klingen Themen aus den Bestsellern an. So schwebt über dem Schlachtfeld an der Somme in der Wahrnehmung Tolkiens, der versucht, im Schützengraben dem Gas und dem Tod zu entfliehen, ab und zu ein Drache; und der Tod scheint wie einer der Schwarzen Reiter durch die Reihen zu schreiten.
Sehr überzeugend sind die schauspielerischen Leistungen. Der altehrwürdige Philologie-Professor Joseph Wright (wunderbar: Derek Jacobi) vermag es in kürzester Zeit nicht nur Tolkien, sondern auch den Zuschauer davon zu überzeugen, dass es eigentlich kein spannenderes Thema auf der Welt gibt als Sprachwissenschaft. Ganz nebenbei erfährt der Zuschauer zudem Fakten über Tolkien, die nicht nur Fans interessieren dürften, etwa woher der Nachname Tolkien kommt und welche Rolle für Tolkien der Ausdruck „Cellar door“ hatte. Und auch die enge Freundschaft der vier Jungen im Club TCBS deutet vielleicht bereits auf die vier Hobbits hin, die Jahre später in „Der Her der Ringe“ versuchen werden, Mittelerde zu retten.
Das tatsächliche Leben Tolkiens bietet eigentlich noch viel mehr, was man in einem Film erzählen könnte. Vielleicht folgt ja noch ein zweiter Teil?
„Tolkien“, Kinostart: 20. Juni 2019, 112 Minuten, Regie: Dome Karukoski